Interview zum Brexit:Schaffen wir die Nationalstaaten ab!

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Eine Utopie: Europa ohne nationalstaatliche Grenzen (Foto: picture alliance / dpa)

Ist Europa nach einem Brexit noch zu retten? Ulrike Guérot, revolutionäre Vordenkerin einer Europäischen Republik, kennt einen ebenso schwierigen wie hoffnungsvollen Weg.

Interview von Thorsten Denkler

Ulrike Guérot ist in Eile, wie immer in diesen heißen Brexit-Tagen. Wir erreichen sie am Telefon in Krems, Österreich. An der dortigen Universität hat sie im April ihren Lehrstuhl am Department für Europapolitik und Demokratieforschung bezogen. In Berlin gründete sie das European Democracy Lab an der European School of Governance. Guérot schreibt über europäische Demokratie und ein globales Europa. Ihr neues Buch "Warum Europa eine Republik werden muss! Eine politische Utopie" ist gerade erschienen. Zeit für ein Gespräch.

Ulrike Guérot kämpft für eine Europäische Republik als Rettung für Europa. (Foto: Dominik Butzmann)

Frau Guérot, Großbritannien steht möglicherweise kurz vor dem Austritt aus der EU. Die Umfragen lassen nichts Gutes ahnen. Wie konnte es so weit kommen?

Es ist ein bisschen wie der James-Dean-Film "... denn sie wissen nicht, was sie tun". Ich könnte jetzt ein paar Plattitüden wiederholen: Dass die Briten nie richtig in Europa angekommen sind, dass sie nicht in der Schengen-Zone, nicht im Euro sind. Sie haben sich immer eingebildet, nur halb dazuzugehören. Es gehört nicht erst seit Winston Churchill zur britischen Imago, dass sie ein geeintes, ein starkes Europa wollen, aber sie selbst bleiben lieber außen vor. Und jetzt, da die EU sichtlich nicht funktioniert, sind sie halt schnell dabei, alles in Frage zu stellen.

Alles nur eine Laune?

Das scheint mir fast so. Die Briten wollen ja im Binnenmarkt bleiben. Nach einem Brexit aber müssten sie dafür jede einzelne Binnenmarktregelung mit 27 Mitgliedstaaten einzeln verhandeln. Mir hat ein britischer Regierungsbeamter gesagt, darauf müssten sie die Energie einer ganzen Generation verwenden.

Ein sehr technisches Argument.

Es hat sich nie ein emotionales Verhältnis der Briten zu Europa entwickelt. Darum geht jetzt die Brexit-Debatte in Großbritannien so in die falsche Richtung. Die Europa-Verteidiger haben nur ökonomische Argumente. Von der Brexit-Seite wird sie dagegen hochemotional geführt. Da geht es um das geliebte Königreich, um die britische Identität, um Unabhängigkeit. Das kommt nicht zusammen. Wer emotional gegen die EU ist, den überzeugen Sie nicht mit rationalen Argumenten. Davon zeugen ja auch so tragische Fälle wie die Ermordung der britischen Abgeordneten Cox.

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Gibt es eine Chance, die Briten emotional doch noch zu packen?

Nein. Die finden sie selbst auf dem Kontinent immer weniger. In einen Binnenmarkt kann man sich nicht verlieben, hat Jacques Delors einmal gesagt. Das Pew Center hat gerade ermittelt, dass das Vertrauen in das Projekt Europäische Union drastisch schwindet. Immer mehr Europäer wünschen sich in allen Staaten ein Referendum wie in Großbritannien.

Auch in Osteuropa ist das so. Dabei gab es dort doch eine große Europabegeisterung in den Beitrittsjahren.

Ein Irrglaube. Den osteuropäischen Ländern war damals die Nato-Mitgliedschaft wichtiger. Die EU-Mitgliedschaft war nur die Zuckerkirsche auf der Torte, das Bekenntnis zur 'immer engeren Union' blieb schemenhaft. Dort ist nie etwas entstanden, was dem auch nur nahekommt, was Staatsmänner wie Helmut Kohl, François Mitterrand oder Jacques Delors an europäischem Willen demonstriert haben.

Dann sollen die Briten doch gehen, wo ist das Problem?

Das Signal, dass eine EU-Mitgliedschaft beliebig ist, ist das Problem. Und die Frage, ob man die Kontrolle über die weiteren Entwicklungen behalten wird. Aber vielleicht müsste dann mal das ganze europäische System darüber nachdenken, was wir hier in und mit Europa zusammen machen wollen, und zwar richtig.

Das bedeutet?

Es muss gelten: Entscheidungen von großer europäischer Tragweite müssen von allen Europäern getroffen werden. Referenden in Nationalstaaten haben heute Veto-Charakter gegen Mehrheitsbeschlüsse in der EU. Das ist schon systemisch falsch. Über EU-Entscheidungen müssen alle europäischen Bürger abstimmen, da darf es keinen Unterschied machen, wes' Landes Kind ich bin, das ist das Problem. Die Frage ist nicht Nationalstaat versus EU, sondern wie wir eine veritable europäische Demokratie organisieren.

Sie stellen die nationale Selbstbestimmung in Frage?

Der Betrug des Maastrichter Vertrages liegt darin, dass uns versprochen wurde, wir seien Bürger-Union und Staaten-Union. Dualität. Wenn das so wäre, wenn es eine europäische Bürgerschaft gäbe, dann könnte uns, ganz platt gesagt, ziemlich egal sein, ob das Vereinigte Königreich als Staat die EU verlässt. Die Briten blieben europäische Bürger. Aber die europäische Staatsbürgerschaft ist der nationalen Staatsbürgerschaft nachgelagert. Die Briten verlieren die EU-Staatsbürgerschaft, wenn ihr Land die EU verlässt. Das ist die Lebenslüge des Maastrichter Vertrages.

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Wie sollte es anders gehen?

Nicht die Staaten sind der eigentliche Souverän, sondern die Bürger sind es. Parlamente und Regierungen vertreten die Bürger nur. Im EU-System aber sind die Bürger nur sehr indirekt vertreten, denn im Wesentlichen entscheidet der Europäische Rat. Das ist die demokratische Stellschraube, an der wir drehen müssen, um Europa neues Leben einzuhauchen. Wenn Ukip-Chef Nigel Farage sagt, er hat ja als EU-Bürger in der EU nichts zu sagen, da will ich raus, hat er im Grunde recht. Der Parlamentarismus in der EU müsste neu gestaltet werden und dem Prinzip der Gewaltenteilung genügen. Man muss Regierungen abwählen können. In der EU aber kann man niemanden abwählen.

Daraus folgt?

Wenn wir über eine wichtige Frage des europäischen Gemeinwesens entscheiden lassen, dann müssten die europäischen Bürger darüber alle zusammen am gleichen Tag entscheiden. Nur so verhindern wir ein europäisches Animal Farm, nämlich, dass einige in Europa gleicher sind als gleich.

Die Populisten würde das freuen.

Ich wäre da gar nicht so pessimistisch. Wenn wir es richtig aufziehen, kriegen wir immer eine große Mehrheit für das Zusammenbleiben. Im Gegenteil, die Populisten wollen mehrheitlich homogene Einheiten wieder voneinander trennen.

Dafür müsste sich die EU neu erfinden. Auch ihre Befürworter sehen doch die Mängel im System, die zum Teil undemokratischen Entscheidungsstrukturen. Die fehlende europäische Öffentlichkeit. Was muss die neue Idee für Europa sein?

Europa muss eine Republik werden. Eine politische Einheit, die dem Gemeinwohl verpflichtet ist und in der alle europäischen Bürger gleich vor dem Recht sind. Als Allererstes müssten wir ein Parlament haben, das macht, was ein Parlament machen soll, nämlich Gesetze. Das eine Regierung ein- und absetzen kann. Das Initiativrecht hat. Das eine Opposition kennt. Dessen Zusammensetzung die Bürger bestimmen können auf der Basis des Prinzips "eine Person, eine Stimme". Das alles haben wir heute nicht.

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Was haben wir stattdessen?

Ein Europäisches Parlament ohne Initiativrecht, eine Kommission als Hüterin der europäischen Verträge. Eigentlich eine Rolle, die einem obersten Gericht zufallen müsste. Wir haben ein Parlament, in dem ein deutscher Abgeordneter fast eine Million Menschen vertritt, ein maltesischer Abgeordneter nur 70 000. Wir haben eine Institutionenlogik, nach der das Parlament sich immer in einer ganz großen Koalition zusammenraufen muss, um den Europäischen Rat zu überstimmen. Das bedeutet, dass der Europäische Rat der Staats- und Regierungschefs das eigentliche Sagen hat in der Europäischen Union. Wir haben eine Staatenunion. Und keine Bürgerunion. Der aggregierte Bürgerwille wird in diesem europäischen System nicht abgebildet.

Demokratischer als ein Referendum aber geht es doch gar nicht.

Einige haben das Nein der Niederländer im Referendum zum Assoziierungsabkommen der EU mit der Ukraine als Sieg der Demokratie gefeiert. Das war es aber nicht. Ein Sieg der Demokratie wäre es, wenn alle EU-Bürger darüber abgestimmt hätten. Was die Niederländer gemacht haben, ist so, als wenn über die nächste Steuerreform in Deutschland nur die Bayern abstimmen würden.

Was spricht gegen eine Weiterentwicklung der EU zu den Vereinigten Staaten von Europa?

Die Tatsache, dass wir es in den letzten 25 Jahren unter weitaus günstigeren Bedingungen nicht geschafft haben. Die Nationalstaaten werden ein vereintes Europa nie machen können, das ist eine contradictio in adjecto, ein Wiederspruch in sich. Europa braucht darum eine Art reset. Nicht umsonst sagten die europäischen Gründungsväter, dass Europa die Überwindung der Nationalstaaten bedeutet.

Was folgt daraus?

Hier kommt der Begriff der Republik ins Spiel, der von Platon über Cicero bis Kant und Rousseau der älteste Begriff ist, wenn es um politische Einheiten geht. Die Republik ist im Kern ein gemeinsamer Rechtsrahmen. Bei Cicero heißt es ius consentis, das heißt, man schließt sich zusammen auf der Grundlage gleichen Rechts . Dafür muss man kein Volk sein, nicht ethnisch sortiert. Wir könnten uns also als 500 Millionen europäische Bürger hinstellen und sagen: Wir sind der Souverän Europas, wir wollen eine res publica europaea, wir gründen eine Europäische Republik. Nicht die Staaten, sondern wir.

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Und dann?

Dann hätten wir keinen Europäischen Rat mehr, in dem nur nationale Karten gezogen werden. Wir hätten einen völlig neugestalteten europäischen Parlamentarismus. Der politisch ist, in dem man eine Regierung abwählen kann. Es wäre ein System, das endlich unsere demokratischen Grundanforderungen - Rechtsgleichheit, Gewaltenteilung - erfüllen würde. Die würden wir in den Nationalstaaten nie in Frage stellen.

Also mehr Europa, mehr Demokratie.

Vor allem ein anderes Europa. Wir brauchen eine nachnationale Demokratie. Wir müssen uns von der Idee verabschieden, dass der Nationalstaat das einzige Gefäß ist, in dem Demokratie organisiert werden kann. Im Begriff der Republik spielt das Nationale überhaupt keine Rolle. Bürger, die sich entschließen, in ein gemeinsames politisches Abenteuer zu gehen, gründen eine Republik. Das ist alles.

Viele Menschen sind verliebt in ihre Nation. Was kann die überzeugen?

Die Menschen lieben nicht die Nation, sie lieben ihre Region. Robert Menasse sagt: Region ist Heimat, Nation ist eine Fiktion. Das stimmt. Ich komme aus Nordrhein-Westfalen, aus der Region um Köln, da hänge ich ein bisschen dran. Wenn ich in München bin, weiß ich aus den Geschichtsbüchern, dass das zu Deutschland gehört. Stünde da etwas anderes, würde ich das auch glauben. Nationalstaaten sind menschliche Artefakte. Die wurden irgendwann mal gemacht. Die Hansestädte in Deutschland standen immer gegen das Heilige Römische Reich. Die italienischen Städte waren alles Republiken.

Wie wollen Sie zur Europäischen Republik kommen?

Binden wir doch zwei Megatrends zusammen: Wir haben einen wahnsinnig starken Trend zur Regionalisierung. Schauen Sie nach Schottland, Böhmen, Mähren, Bayern, wohin auch immer. Und auf der anderen Seite einen starken Trend in der Demokratie zu mehr Partizipation. Wir müssen weg von der Idee, Demokratie könne auf einen Wahlakt alle paar Jahre reduziert werden.

Mit diesen beiden Trends könnten wir ein Europa schaffen, das nach außen stark und geeint ist. Und nach innen größtmögliche regionale Vielfalt bietet: normative, also Rechtsgleichheit bei gleichzeitiger kultureller Vielfalt. Eben europäische Regionen, die sich zu einer Europäischen Republik zusammenschließen. Dafür bräuchten wir dann einen Senat als zweite Kammer, in dem die Regionen vertreten wären. Den europäischen Präsidenten könnten wir direkt wählen.

Sie schaffen die nationalen Regierungen ab.

Selbstverständlich. Damit hätten sie die drei dicken Elefanten, die heute das europäische Geschehen dominieren - nämlich Deutschland, Großbritannien und Frankreich - aus dem Weg geräumt. 50 mehr oder weniger gleich große Regionen in Europa kommen machtpolitisch anders zusammen, als so ungleiche Nationalstaaten wie in der heutigen EU. Es ist heute doch kein Spielfeld der Gleichen, wenn am Ende doch nur Frau Merkel regiert.

Mal weg von der Utopie hin zum real existierenden Referendum der Briten. Überlebt die EU einen Brexit?

Es wird zumindest ungemütlich. Nach den Briten kommen womöglich die Ungarn, die Polen, die Tschechen. Bald wollen alle ein nationales Referendum. Dann tanzen die Puppen. Die Rechtspopulisten von der FPÖ über den Front National bis zur AfD werden sich freuen. Vielleicht gewinnt Marine Le Pen in Frankreich die Präsidentschaftswahl. Ich will das nicht beschwören. Aber unmöglich scheint ja heute nichts mehr.

Was kann dem noch entgegengesetzt werden?

Das Interessante ist doch: Die Populisten von Le Pen bis Frauke Petry sagen alle, sie haben gar nichts gegen Europa, sie haben nur etwas gegen die EU. Nehmen wir sie doch beim Wort und machen wir Europa attraktiv: regional, parlamentarisch, demokratisch, sozial. Die politische Mitte muss den sogenannten Populisten ihre eigentlich richtigen Forderungen klauen: Mehr Region, weniger Nationalstaat, mehr Gemeinwohl, weniger technokratischer Binnenmarkt. Es wäre eine Chance, die Menschen wieder für Europa zu gewinnen. Und der Rechtspopulismus würde wahrscheinlich schmelzen wie Erdbeereis in der Sonne.

Wer soll das angehen? Die Regierungen werden dafür weder die Kraft noch den Willen aufbringen.

Richtig, das lehrt uns die Geschichte. Nach Hegel kann das alte System nie das neue gebären. Und Systemwechsel sind kritische, historische Momente. Aber 1989/1990 haben wir in Europa so einen Wechsel friedlich hinbekommen. Wir sollen stolz darauf sein. Die Frage ist, ob uns das noch einmal gelingen kann.

Soll sich Europa bereithalten für die Katastrophe, für den Zusammenbruch?

Joschka Fischer hält eine Implosion der EU nicht mehr für ausgeschlossen. Immer wenn Eliten glauben, ein System kann nie zusammenbrechen und sie dann auch noch ständig sagen, dass das System schon überleben wird, dann ist es akut gefährdet. Das sagt uns die Desintegrationsforschung. Danach ist die EU extrem gefährdet. Nur weiß keiner genau, wann und wie es passiert. Ob ein Brexit der Trigger dafür ist, weiß ich nicht. Aber er könnte es sein.

Das klingt alles sehr depressiv.

Im Gegenteil, alternativlos macht depressiv. Ich setzte eine Utopie gegen die augenblickliche Depression. Schon seit Jahren sind in den sozialen Netzen junge hochmotivierte Menschen mit europäischen Initiativen unterwegs, die solche Orientierungen suchen, aufgreifen und weiterführen.

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