Globales Krisenmanagement:Indien will abgehängten Ländern beistehen

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Indien steht mit einem Bein in der Armut, aber mit dem anderen schon in der Zukunft. Jugendliche in Mumbai. (Foto: Rajanish Kakade/AP)

Das Schwellenland übernimmt im Dezember den G-20-Vorsitz - und will sich als Brückenbauer für ärmere Staaten in Stellung bringen. Aber hat Indien auch wirklich die Kraft, den Kampf gegen Elend und Chaos voranzutreiben?

Von Arne Perras

Indien läuft sich schon mal warm. Auf Bali hat Premier Narendra Modi ein Hämmerchen von Gastgeber Joko Widodo bekommen, eine symbolische Geste, dass der Vorsitz der G-20-Staaten nun zum 1. Dezember wechseln wird. Indien übernimmt. Nach Indonesien rückt damit ein weiteres Schwellenland an die Spitze im Club der 20, die fast zwei Drittel der Weltbevölkerung umfassen und 75 Prozent des globalen Handels abwickeln. Und Delhi, das ist schon absehbar, hat sich viel vorgenommen. Indien will, wie Modi auf Bali verkündete, die G20 zu einem "Katalysator des globalen Wandels" machen. Er fordert "collective action", alle sollen gemeinsam anpacken. Das klingt erst mal nach Phrasen - oder ist doch mehr dran?

Angesichts der globalen Zerrissenheit gibt es zahllose Appelle, dass die Staaten wieder näher zusammenrücken müssen. Aber das ist einfacher gesagt als getan. Klimakrise, Pandemie, Krieg in der Ukraine - das sind die teuflischen Drillinge, die das Weltgefüge stark ins Wanken gebracht haben. Indien, das selbst einen beträchtlichen Teil an Armut im eigenen Land zu bekämpfen hat, weiß, worum es geht. Es kann sich in die Nöte armer Länder weitaus besser hineinversetzen als Staaten im Westen, weil Indien eben mit einem Bein immer noch in dieser armen Welt steht; mit dem anderen aber schon in einem Hightech-Universum, das Sonden zum Mars schießt.

Delhi hat vorgemacht, wie sich die untersten Schichten in die digitale Welt einbinden lassen

Die historische Erfahrung, sich aus kolonialen Abhängigkeiten befreit und danach ein demokratisches Staatswesen aufgebaut zu haben, könnte für weitere globale Reformen noch nützlich sein. Beispiel Digitalisierung: Delhi hat vorgemacht, wie sich auch die untersten Schichten einer Gesellschaft in die digitale Welt einbinden lassen. Die Vorteile einer solchen Politik sind offenkundig, etwa im Kampf gegen eine korrupte Verteilung staatlicher Mittel. Digitalisierung fördert, richtig eingesetzt, die Transparenz und erschwert Missbrauch.

In jedem Fall machte der Gipfel in Bali deutlich, dass Indien einen großen Anspruch anmeldet: Es will die G-20-Gruppe zum Motor für neue Ideen und auch eine neue globale Ordnung machen. Damit ist nicht der zerstörerische Weg gemeint, den Wladimir Putin nun in seiner nationalistischen Verblendung gewählt hat. Indien bewirbt sich vielmehr als Brückenbauer zwischen Arm und Reich. Und einen solchen Job zu besetzen, wird angesichts der globalen Verwerfungen vielerorts als dringend nötig erachtet.

Indien übernimmt nun den Vorsitz: Narendra Modi mit dem indonesischen Gastgeber Joko Widodo. (Foto: Leon Neal/Getty Images,)

In Delhi ist einiger Ehrgeiz aufgeflammt, über den eigenen Tellerrand hinauszublicken, viel weiter jedenfalls als bisher. Das ließ Modi auf der exponierten Bühne des G-20-Gipfels klar erkennen. Bislang ist Delhi mit globalen Ambitionen eher wenig aufgefallen, abgesehen vielleicht von seiner Forderung, endlich mal den UN-Sicherheitsrat zu reformieren. Früher hatte sich das Land für die Bewegung der Blockfreien starkgemacht. Aber an der Dynamik des Kalten Krieges konnte das einst wenig ändern.

Wer in die Historie Indiens blickt, begegnet einem Land, das im Unabhängigkeitskampf von den Briten und auch in den Aufbaujahren danach vor allem um sich selbst kreiste. Das war nicht überraschend, ging es doch erst mal um existenzielle Fragen innerhalb der eigenen Grenzen. Staatsgründer Jawaharlal Nehru hatte noch große Sorge, wie es Indien gelingen soll, seine Menschen zu ernähren. Das Land hat eine riesige Strecke zurückgelegt. Es hat beachtliche Erfolge im Kampf gegen die Armut vorzuweisen, aber es ist eben auch noch lange nicht fertig damit, solange das Elend noch viele Millionen niederdrückt. Und die Inflation neue Nöte schafft.

Eine bessere Position als Brückenbauer kann kein anderes Land für sich beanspruchen

Indien pflegt schon aufgrund der schieren Größe seines Marktes und seiner geostrategischen Bedeutung enge Verbindungen in die Industriestaaten. Es hat aber auch - etwa durch sein Engagement für die Blockfreien - historische Zugänge zu vielen ärmeren Staaten, besonders in Asien und Afrika. Eine bessere Position als potenzieller Brückenbauer kann eigentlich kein anderes Land für sich beanspruchen.

Die Frage ist nur: Steckt hinter der vollmundigen indischen Rhetorik auch die nötige Entschlossenheit und Kraft, nennenswerte Initiativen anzuschieben? Für den Westen ist das keine unerhebliche Frage, denn schließlich wird er viel Geld ausgeben müssen, um Klimaschäden in ärmeren Ländern zu kompensieren, Nahrungskrisen zu lösen und saubere Energien zu fördern.

Auch die von vielen geforderte Reform globaler Finanzinstitutionen, allen voran der Weltbank, könnte Delhi mit Kraft vorantreiben, denn die Instrumente tragen derzeit die Handschrift der reichen Welt und nicht alle glauben, dass sie in ihrer jetzigen Gestalt noch geeignet sind, Ländern aus der Armutsfalle zu helfen. Die Verwüstungen durch den Klimawandel, mit all den Dürren, Stürmen und Fluten, machen Reformen umso dringlicher.

Nach Indien werden mit Brasilien und Südafrika zwei weitere Länder aus dem Süden im G-20-Vorsitz folgen, damit haben die aufsteigenden Volkswirtschaften ein Zeitfenster von insgesamt fünf Jahren, um die Arbeit der G-20-Gruppe maßgeblich in ihrem Sinne zu prägen. Ärmere Länder setzen darauf, dass die Schwellenländer im G-20-Club auch stärker als ihre Paten auftreten, um ein weiteres Abdriften in Elend, Gewalt und Chaos zu verhindern.

Indien leidet selbst massiv unter den Folgen des Klimawandels, der Wasserstress nimmt zu. Zugleich ist Indiens ökonomisches Gewicht über die Jahre erheblich gewachsen, erst kürzlich hat das Land Großbritannien als fünftgrößte Volkswirtschaft überholt. Und die Modi-Regierung versucht offenbar, dieses Gewicht in politischen Einfluss umzumünzen. Indien möchte, wie es manche deuten, zum "Champion of the South" werden, einer Art Leitstern für Länder des Südens. Oder anders gesagt: Anwalt der Abgehängten.

Indien will raus aus der permanenten Selbstbespiegelung

Dass es die Interessen der ärmeren Länder mit vertreten will, hat Delhi bereits fest versprochen. Dafür steht auch die indische Formel, die eine Unteilbarkeit der Welt postuliert: "Eine Erde, eine Familie, eine Zukunft."

Sicher ist: Indien will raus aus der permanenten Selbstbespiegelung und sich auch als "Global Player" positionieren. Der G-20-Vorsitz alleine kann die neuen außenpolitischen Ambitionen aber nicht erklären. Sie fallen in Zeiten größerer geopolitischer Umbrüche, die Delhi geradezu zwingen, Indiens Anspruch in der Welt neu zu definieren. Ansätze dafür gab es schon vor dem russischen Überfall auf die Ukraine. Indiens außenpolitischer Ehrgeiz hat vor allem mit einem asiatischen Nachbarn zu tun: China.

Peking expandiert, ökonomisch wie politisch, in alle Richtungen, was aus indischer Sicht Chancen schmälert, sich selbst als Großmacht zu entwickeln. Beide Atommächte belauern sich entlang ihrer umstrittenen Grenze im Himalaya. Peking wird die Signale aus Delhi zur neuen Außenpolitik sehr genau beobachten. Denn bisher war es schließlich China, das sehr konsequent darauf hingearbeitet hat, ärmere Länder an sich zu binden. Es vergab Stipendien an Studenten, es schloss Handelsverträge. Vor allem aber packte es Geldbündel für Brücken, Straßen, Häfen und Eisenbahnen aus, mit oft undurchsichtigen Krediten schaffte China Abhängigkeiten.

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Peking lockte dabei auch mit einer überwölbenden Rhetorik, die den Westen zum neokolonialistischen Club stempelte, ungeeignet, die Probleme der Ärmsten zu lösen, was auch immer sie an Milliarden Entwicklungshilfe verteilten. China profitierte erheblich von der Doppelmoral und den Widersprüchen, mit denen gerade die Europäer dem Süden begegnen. Päppeln und niederdrücken, das ging oft Hand in Hand. Der absurde Absatz von subventioniertem EU-Fleisch in Westafrika ist nur eines von vielen Beispielen. Man untergräbt die Ökonomien des Südens, leistet aber gleichzeitig Hilfe, um die Folgen zu mildern. China hatte es nicht besonders schwer, dort Fuß zu fassen.

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Wenn es Indien ernst meint mit Plänen, arme Länder stärker um sich zu scharen, dürfte das die Rivalität mit Peking noch verschärfen. In Delhi ist jedoch ein Bewusstsein gewachsen, dass das Land einen hohen Preis dafür bezahlt, wenn es dem expansionistischen Drang Chinas nichts entgegensetzt. Es herrschen Ängste vor einer Einkreisung im Indischen Ozean, weil fast alle Nachbarn Indiens - von Myanmar und Bangladesch im Osten über Sri Lanka und die Malediven im Süden bis nach Pakistan im Westen - unter den Einfluss Chinas geraten sind. Und im Norden steht Pekings Armee im Himalaya.

Strategisch umzingelt zu sein, das ist kein gutes Gefühl. Und es schürt Delhis Bedürfnis, Verbündete zu suchen. Zum Beispiel im Westen. Der hat offene Ohren für einen Schulterschluss, weil auch er hofft, dass Indien ein südliches Bollwerk sein kann gegen den systemischen Konkurrenten China.

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