Impfpflicht:Scheitern auf ganzer Linie

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Schnell mal Twitter checken? Gesundheitsminister Lauterbach widmet sich während der Impfpflicht-Abstimmungen seinem Handy. (Foto: Lisi Niesner/Reuters)

Krimi, made in Berlin: Nach einem quälend zähen Gesetzgebungsprozess fällt im Bundestag jegliche Impfpflicht durch. Kanzler und Gesundheitsminister erleiden eine schwere politische Niederlage.

Von Angelika Slavik, Berlin

An dem Tag, der seine schlimmste politische Niederlage markieren wird, versucht Karl Lauterbach noch, die Dinge irgendwie herumzureißen. "Heute ist der Tag der Entscheidung", wendet er sich vom Rednerpult aus direkt an die Union. "Lassen Sie uns nicht im Stich!"

Dass ein Regierungsmitglied wie Bundesgesundheitsminister Lauterbach (SPD) die Opposition um Unterstützung anfleht, erlebt man nicht oft. Überhaupt ist die Bundestagssitzung am Donnerstag bemerkenswert. Wegen eines Gesetzentwurfs, um den vier lange, zähe Monate und drei kurze, hektische Tage lang gerungen wurde, der am Ende aber keine Mehrheit finden sollte. Es ist 12.43 Uhr, als die Bundestagsvizepräsidentin Aydan Özoğuz das Ergebnis bekannt gibt. 296 Ja-Stimmen, 378 Nein-Stimmen, neun Enthaltungen. "Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt." Keine Impfpflicht für Deutschland. Nicht ab 18, nicht ab 50, nicht ab 60 Jahren. Gar keine.

Zuvor hatte es eine hitzige Debatte gegeben, in der alle Seiten die Bedeutung der Entscheidung unterstrichen. "Die Leute haben die Schnauze voll", formulierte etwa der Grünen-Abgeordnete Till Steffen in Hinblick auf Einschränkungen durch die Corona-Pandemie. "Heute fällt hier die Entscheidung, ob wir es schaffen, da rauszukommen." Der FDP-Politiker Andrew Ullmann warnte eindringlich davor, am Ende "ohne etwas" dazustehen, ein Scheitern der Impfpflicht müsse unbedingt verhindert werden.

Die Frage, ob die Impfung gegen das Coronavirus verpflichtend sein sollte oder nicht, polarisierte das Land wie wenig andere Fragen. Auch in der Ampelkoalition war das Meinungsspektrum breit. Vor allem in der FDP argumentierten viele gegen eine Impfpflicht, weswegen Kanzler Olaf Scholz (SPD) eine politische Volte versuchte. Er erklärte die Frage zur Gewissensentscheidung. Der Bundesgesundheitsminister brachte keinen eigenen Gesetzesvorschlag ein, stattdessen sollten die Abgeordneten ohne jeden Fraktionszwang zusammenfinden und Gruppenanträge erarbeiten. Das geschah, zwischenzeitlich gab es fünf verschiedene Anträge für oder gegen eine Impfpflicht - alle ohne Chance auf eine Mehrheit.

"Ich habe den Eindruck, Sie haben den Gesetzentwurf nicht mal gelesen!"

In den vergangenen Tagen zeichnete sich dann ab, dass die Abstimmung zum Krimi werden würde: Zwar einigten sich die Befürworter einer Impfpflicht ab 18 und die Befürworter einer Impfpflicht ab 50 innerhalb der Ampelkoalition auf einen Kompromissvorschlag: Demnach sollte die Immunisierung von Oktober an für alle Menschen ab 60 Jahren obligatorisch sein, ungeimpfte Erwachsene ab 18 Jahren sollten ein Beratungsgespräch absolvieren müssen. Doch für eine Mehrheit war die Gruppe nicht groß genug, man benötigte Stimmen aus der Union. CDU und CSU legten indes einen eigenen Antrag vor: Die Union wollte eine abgestufte Impfpflicht auf Vorrat beschließen, die nur in Kraft gesetzt werden sollte, wenn es die Infektionslage im Herbst notwendig mache.

Neben diesen Pro-Anträgen gab es noch zwei zur Ablehnung einer Impfpflicht: jenen einer Abgeordnetengruppe rund um den FDP-Politiker Wolfgang Kubicki, der auf positive Motivation ohne Zwang setzte. Und den der AfD, der sich nicht nur gegen die allgemeine Impfpflicht aussprach, sondern auch gleich noch die einrichtungsbezogene, die etwa für Kliniken und Pflegeheime bereits gilt, wieder abschaffen wollte. Dass beide Vorschläge, der von Kubicki und der von der AfD, nicht mehrheitsfähig sein würden, war vorab klar. Aber die Ü60-Gruppe aus der Ampel und die Union machten sich Hoffnungen, die jeweils anderen auf ihre Seite ziehen zu können, sobald der eigene Antrag gescheitert wäre.

In der Debatte vor der Abstimmung ging es zwischen Union und SPD-Abgeordneten entsprechend zur Sache. "Ich habe den Eindruck, Sie haben den Gesetzentwurf nicht mal gelesen!", fauchte die SPD-Politikerin Heike Baehrens Richtung Union. Der gesundheitspolitische Sprecher der CDU, Tino Sorge, warf der Ampel vor, einen möglichen Kompromiss in den Sand gesetzt zu haben: Es sei ja nicht so, "als wären wir nicht gesprächsbereit gewesen".

Die FDP gibt einen Fingerzeig - Richtung Herbst

Angesichts der Pattsituation kam der Geschäftsordnung diesmal ungewöhnlich große Bedeutung zu: Würde zuerst über den Unionsantrag abgestimmt, so hoffte man in der Ampel, würden im Fall einer Niederlage vielleicht einige Unionsabgeordnete für den Ü60-Antrag stimmen - schlicht um zu verhindern, dass am Ende gar keine Mehrheit für eine Impfpflicht zustande käme. Die Union wollte das Spiel genau umgekehrt spielen: Wenn die Ampelabgeordneten ihren Entwurf nicht durchbrächten, würden sie vielleicht für den Unionsantrag stimmen und damit CDU-Chef Friedrich Merz zum Triumph verhelfen. Oder nicht?

Deshalb schritt der Bundestag zunächst zur Abstimmung über die Abstimmungsreihenfolge - und dabei erlitt die Ampelgruppe eine unerwartete Niederlage. Über ihren Entwurf wurde als Erstes abgestimmt. Er scheiterte. Dann folgte der Antrag der Union. Er fand noch weniger Zustimmung.

Die Bekämpfung der Pandemie werde im Herbst nun "viel schwerer werden", schrieb Bundesgesundheitsminister Lauterbach im Anschluss bei Twitter. Aus der FDP dagegen kamen Signale: Das letzte Wort sei vielleicht noch nicht gesprochen worden. Man könne nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit sagen, ob es im Herbst eine Impfpflicht brauche, hieß es in einer Erklärung, die unter anderem Parteichef Christian Lindner unterzeichnet hatte. Derzeit aber lasse sie sich "nicht ausreichend gut begründen".

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