Im Frühsommer soll es so weit sein, pünktlich zur Reisesaison: Bis dahin, binnen drei Monaten, wollen die EU-Staaten ein gemeinsames Corona-Impfpass-System aufgebaut haben. Diese Ankündigung war das konkreteste Ergebnis des ersten Tages des EU-Videogipfels der Staats- und Regierungschefs. Allerdings warnte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hinterher, bei der Pressekonferenz am späten Donnerstagabend, dass die Regierungen "schnell vorankommen müssen", wenn sie das schaffen wollten.
Auf den Impfnachweisen ruhen große Hoffnungen. Mit ihnen könnten Geimpfte von Erleichterungen profitieren, etwa beim Reisen. Das wäre nicht nur schön für sonnenhungrige Urlauber, sondern auch für jene EU-Staaten, deren Wirtschaft vom Tourismus abhängt, wie Spanien oder Griechenland. Entsprechend viel Druck machen die Regierungen dieser Länder.
Doch solch ein EU-weit kompatibles System zu errichten, ist nicht einfach. Vorgesehen ist, dass die Mitgliedstaaten Datenbanken aufbauen. Wenn ein Bürger sich gegen Corona impfen lässt, wenn sein Virentest negativ ausfällt oder er von der Krankheit genesen und damit immun ist, sollen der Arzt oder das Test- oder Impfzentrum diese Daten hochladen. Als Antwort könnte das System zum Beispiel einen QR-Code liefern, den der Bürger ausdrucken oder auf seinem Mobiltelefon speichern kann.
Mit dem Code kann er danach überall in der EU am Flughafen oder an der Hotelrezeption belegen, dass er negativ getestet oder immun ist. Rezeptionisten oder Grenzbeamte könnten mithilfe des Codes eine schnelle Anfrage an die Datenbank des Heimatlandes des Reisenden stellen.
Aufgabe der EU-Kommission ist es, eine Plattform zu programmieren, über die sich die nationalen Impfpass-Datenbanken miteinander austauschen können. Die nationalen Systeme müssen aber dafür ausgelegt sein. Daher wird die Brüsseler Behörde demnächst einen Brief mit den technischen Details an die Mitgliedstaaten schicken. Außerdem will die Kommission noch im März den Vorschlag für ein EU-Gesetz präsentieren, das den rechtlichen Rahmen für den Datenaustausch setzt. Zuständig ist Justizkommissar Didier Reynders.
"Wir müssen schneller werden, viel schneller", forderte Mario Draghi
Die Mitgliedstaaten wiederum müssen ein System aufbauen, mit dem Ärzte und Impfzentren geschützten Zugriff auf die neue Datenbank haben - genau wie Grenzbeamte, Hoteliers und alle anderen, die von den Bürgern Impf- oder Testnachweise sehen wollen. Sowohl die Kommission als auch die Mitgliedstaaten schätzen, dass sie ihren Teil der Aufgabe innerhalb von drei Monaten erledigen können.
Die Erfahrungen mit ähnlichen Corona-Projekten wecken jedoch Skepsis: So gelobten die EU-Regierungen bereits im Oktober, ein einheitliches elektronisches Formular zu entwickeln, mit dem Reisende ihren Aufenthaltsort angeben - bislang ohne Ergebnis. Schleppend kommt ebenfalls das Vorhaben voran, dass sich die Covid-Apps der Mitgliedstaaten austauschen können. Ende März soll das erst bei 21 nationalen Handy-Programmen möglich sein.
Neben den technischen gibt es wissenschaftliche und politische Fragen. So ist bisher nicht eindeutig belegt, wie lang der Impfschutz bei den verschiedenen Corona-Vakzinen andauert - und ob Geimpfte nicht trotzdem ansteckend sein können. Und was ist mit Sputnik, dem Impfstoff aus Russland? Ungarn hat eine Notzulassung erteilt und will das Mittel einsetzen, aber eine Zulassung bei der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) wurde offenbar nicht beantragt. Werden Ungarn damit geimpft, wird das in der dortigen Impfpass-Datenbank hinterlegt. Doch sollten die anderen EU-Staaten diese Impfung anerkennen, obwohl die EMA-Lizenz fehlt?
Brisant ist zudem die Debatte darüber, welche Vorteile der Nachweis liefern soll. Die Reiseländer fordern möglichst schnell möglichst viele Erleichterungen, aber Regierungen von Staaten wie Deutschland und Frankreich sind zögerlich, weil sie keine Impfpflicht durch die Hintertür einführen wollen. Das immerhin muss nicht Sorge der EU-Kommission sein. Sie stellt das System für den Austausch zur Verfügung, doch welche Vorteile der Pass bringen soll, entscheidet jeder Staat für sich. Dies freilich könnte bedeuten, dass in Europa ein Flickenteppich von Impfpass-Regelungen entsteht.
Den Staats- und Regierungschefs stehen also mühsame Debatten bevor. Dabei war schon der Austausch am Donnerstag zum Teil sehr angespannt. Der Italiener Mario Draghi nutzte seine Premiere für einen dringenden Appell: "Wir müssen schneller werden, viel schneller." Andere Staats- und Regierungschefs wie der Belgier Alexander de Croo schilderten, dass ihnen zu Hause die Erklärung immer schwerer falle, wieso so viele in der EU produzierte Impfstoffe exportiert würden. Nach SZ-Informationen dachten in der Runde neben Draghi und de Croo auch Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, die Balten oder der Niederländer Mark Rutte laut darüber nach, ob die EU-Kommission nicht ihr neues Exportgenehmigungs-Instrument für Verbote nutzen sollte.
Kommissionschefin von der Leyen betonte aber, dass es der Behörde hier in erster Linie um Transparenz gehe. 95 Prozent der Genehmigungsanträge für Vakzin-Exporte stammten von Biontech/Pfizer, der Rest von Moderna. Mit beiden Firmen gebe es keine Probleme - anders als mit Astra Zeneca, sagte von der Leyen in der Pressekonferenz. "Hier gibt es viel Raum für Verbesserungen, was die Erfüllung der Verträge angeht. Aber da schauen wir sehr genau hin." Um dem britisch-schwedischen Hersteller Druck zu machen, wurde extra ein Satz in die Schlusserklärung des Gipfels aufgenommen: "Die Unternehmen müssen die Planbarkeit ihrer Impfstoffherstellung gewährleisten und vertragliche Lieferfristen einhalten."
Dass die Wut über seine Firma nicht verraucht ist, erlebte Astra-Zeneca-Chef Pascal Soriot auch bei einer Anhörung im Europaparlament am gleichen Tag. Seine Erklärung für die Verzögerungen, dass man normalerweise Jahre Zeit habe, um eine solche Impfstoff-Fertigung aufzubauen, überzeugte wenige. "Sie sind wie ein Stück Seife", klagte die Linken-Abgeordnete Silvia Modig, "unmöglich, in den Griff zu kriegen."