Immunität:Was verspricht sich Erdoğan von der Verfassungsänderung?

Was bedeutet der Verlust der Immunität für die Abgeordneten?

Die Staatsanwaltschaft kann nun aller Voraussicht nach die Ermittlungen gegen die einzelnen Abgeordneten aufnehmen. Die HDP befürchtet, dass Abgeordnete aus ihren Reihen in U-Haft genommen werden. Ihr Mandat verlieren Parlamentarier allerdings erst dann, wenn sie in letzter Instanz verurteilt werden. Weil die frei werdenden Sitze dem türkischen System nach aber nicht von Nachrückern aus der eigenen Partei besetzt werden dürfen, verliert die Fraktion den Sitz. Würden fünf Prozent der Parlamentssitze frei - wenn also 28 Abgeordnete ihr Mandat verlieren -, muss verfassungsgemäß in den Wahlbezirken nachgewählt werden.

Was bringt die Verfassungsänderung Erdoğan?

Der Staatschef steht mit seiner AKP im Verdacht, bei solchen Nachwahlen die zur Referendums-Hürde fehlenden 13 Sitze dazugewinnen zu wollen. Mit 60 Prozent der Sitze im Parlament (330 Mandate) könnte die AKP das von Erdoğan angestrebte Referendum für ein Präsidialsystem in die Wege leiten. Dem Verdacht trat die AKP vor der Abstimmung mit dem Verweis entgegen, in Kurdengebieten auch bei Nachwahlen keine Chance auf Stimmengewinn zu haben. Die HDP dürfte nun aber in jedem Fall geschwächt werden: Ihr Vorsitzender Selahattin Demirtaş ist der wohl charismatischste Gegner Erdoğans und verliert nun ebenfalls seine Immunität.

Warum ist gerade die prokurdische HDP dem Präsidenten ein Dorn im Auge?

Die HDP gilt Erdoğan als gemäßigter Flügel der kurdischen PKK. Mit Vorstößen wie der geplanten Verfassungsänderung versucht er, die HDP zu diffamieren und zu entmachten. Seit vergangenem Sommer ist der Konflikt mit den Kurden in der Türkei wiederaufgeflammt. Schon im Parlamentswahlkampf im ersten Halbjahr vergangenen Jahres zeichnete sich ein tiefer Graben zwischen Erdoğan und der prokurdischen HDP ab, als diese klarmachte, dass ein Präsidialsystem mit ihr nicht zu machen sei.

Am 20. Juli 2015 erhitzte ein Anschlag in der türkischen Stadt Suruç nahe der syrischen Grenze mit mehr als 30 Toten die alte Feindschaft. Das Attentat wird zwar dem sogenannten Islamischen Staat (IS) zugeschrieben. Doch die PKK warf der türkischen Regierung vor, den IS im Kampf gegen die syrischen Kurden zu unterstützen, und verübte im Anschluss mehrere, teils tödliche Attentate auf türkische Polizisten. Daraufhin griff das türkische Militär nicht nur zum ersten Mal offen den IS an, sondern ging auch gegen Stellungen der PKK im Nordirak vor.

Der Waffenstillstand zwischen der PKK und der Türkei, der seit 2013 mal mehr und mal weniger gegolten hatte, ist seitdem passé. Immer blutiger wurde der Konflikt. Im Südosten der Türkei liefern sich kurdische Kämpfer und türkisches Militär immer wieder heftige Gefechte, Bomben detonieren in türkischen Großstädten. Wie etwa Anfang Oktober, als ein Sprengsatz bei einer Friedensdemonstration in Ankara in die Luft ging. An der Demonstration nahmen viele HDP-Anhänger teil.

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