Das erste Mal reiste Jelani Cobb nach Ferguson, als es nach dem Tod des schwarzen Jugendlichen Michael Brown im August zu gewalttätigen Protesten kam. Der 45-Jährige arbeitet als Kolumnist für den New Yorker und hat die Entwicklungen rund um diesen Fall für das Magazin verfolgt. Ende November war der Historiker wieder in Ferguson, als die Entscheidung der Jury bekannt gegeben wurde, dass der weiße Polizist Darren Wilson nicht angeklagt wird.
Sein Fazit: Die Behörden haben so stümperhaft agiert und waren so schlecht vorbereitet, dass Ausschreitungen unvermeidbar waren. Im Interview vergleicht Cobb, der African American Studies an der University of Connecticut lehrt, die jüngsten Proteste mit der Bürgerrechtsbewegung der sechziger Jahre und versucht, sich die Reaktion von US-Präsident Barack Obama zu erklären.
SZ.de: Auch nach mehr als viereinhalb Monaten geben die Aktivisten in Ferguson nicht auf und fordern "Gerechtigkeit für Michael Brown". Was haben die Leute bisher erreicht?
Jelani Cobb: Die Aktivisten haben dafür gesorgt, dass die Hintergründe nicht unter den Teppich gekehrt werden konnten. Die Welt hat nach Missouri geschaut. Allein das ist eine Leistung, doch die Auswirkungen sind noch größer. In Cleveland und New York sind die Leute nach den Todesfällen von Tamir Rice und Eric Garner auf die Straßen gegangen. Dass sich in mehr als 200 Städten schwarze und arme Bürger gegen die Art wehren, wie die Polizei sie behandelt, liegt an Ferguson.
Eine Demonstrantin verlangt Gerechtigkeit für Eric Garner. Ein Geschworenengremium hatte entschieden, einen weißen Polizisten für den Tod Garners in New York nicht zur Rechenschaft zu ziehen.
(Foto: REUTERS)Sie sind Historiker und haben sich ausführlich mit Martin Luther King beschäftigt. Ist in Ferguson eine neue Bürgerrechtsbewegung entstanden?
Es gibt viele Parallelen. In den fünfziger und sechziger Jahren ist die Polizei brutal gegen demonstrierende Schwarze vorgegangen, sie hat Tränengas und schweres Gerät eingesetzt und nicht versucht, die Lage zu beruhigen. Genauso war es im August in Ferguson, die Bilder waren ähnlich. Schon in der Zeit von Martin Luther King haben sich Afroamerikaner über Polizeigewalt beschwert. Viele der Aufstände wurden durch gewalttätige Polizisten ausgelöst - das gilt für die Erhebungen in Harlem 1964, im Stadtviertel Watts in Los Angeles 1965 sowie für die riots in Newark und Detroit 1967. Damals wurden viele Gebäude und Geschäfte zerstört, Dutzende Menschen starben. Die Schwarzen hatten aber erkannt, dass diese Gewalt eine der wenigen Möglichkeiten ist, damit man ihr Leiden wahrnimmt und ihnen Antworten gibt.
Die Aktivisten, die heute "Black lives matter" rufen, beziehen sich in ihren Reden und Tweets oft auf den Busboykott von Montgomery. Was ist damals genau passiert?
1955 weigerten sich die Schwarzen in Montgomery, den Bus zu benutzen, solange sie nur auf den hinteren Bänken sitzen dürfen. Das war der Moment, in dem Rosa Parks berühmt wurde. Heute denken wir, dass diese Segregation sofort aufhörte, nachdem es zum Protest gekommen war. In Wahrheit dauerte der Boykott mehr als ein Jahr. Die Segregation wurde aufgegeben, weil der finanzielle Druck auf die Transportunternehmen so groß war - sie brauchten die schwarzen Kunden. Heute versuchen die Aktivisten, Einkaufszentren lahmzulegen. Ein Ende ist nicht in Sicht, die enorme Ausdauer erinnert an Montgomery.
Ein Unterschied liegt aber darin, dass es keinen Anführer gibt.
Vor einem halben Jahrhundert war Martin Luther King die berühmteste Figur, aber es gab auch damals viele Organisationen mit vielen Anführern, die King oft kritisierten. Es gibt immer Leute im Hintergrund, deren wichtige Arbeit niemand wahrnimmt. Es schadet der Ferguson-Bewegung nicht, dass es keinen charismatischen Sprecher gibt. Die Bürgerrechtsbewegung war wohl zu sehr auf King konzentriert: Als er ermordet wurde, waren die Leute demoralisiert. Dass es heute so viele unabhängige Gruppen gibt, die lose kooperieren, passt in unsere Zeit. Es ist viel demokratischer.