Historiker Robert Gerwarth:Wie sich Gewalt nach dem Ersten Weltkrieg durch Europa gefressen hat

Wachposten während Novemberrevolution in Berlin, 1918

Auch in Deutschland kam es nach dem Ersten Weltkrieg zu Unruhen: Wachposten der Revolutionäre während der Novemberrevolution 1918 in Berlin.

(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

In vielen Ländern Europas kommt es nach 1918 zu Gewaltexzessen, bei denen Millionen Menschen sterben. Robert Gerwarth über destabilisierte Verliererstaaten, Tabubrüche und Konflikte, die bis heute nachwirken.

Interview von Barbara Galaktionow

Am Ende des Ersten Weltkriegs zerbrechen jahrhundertealte Reiche, viele Verliererstaaten sind destabilisiert und in revolutionärem Aufruhr. Der deutsche Historiker Robert Gerwarth befasst sich in seinem neuesten Buch (Die Besiegten. Das blutige Erbe des Ersten Weltkriegs, München 2017) mit den zahlreichen Auseinandersetzungen, die unmittelbar auf den Weltkrieg folgten. Sie hinterließen ein explosives Erbe, das zum Teil auch heute wieder sichtbar wird.

SZ.de: Gemeinhin herrscht die Vorstellung: Der Erste Weltkrieg endete 1918 - danach herrschte Frieden. Sie sagen, das stimmt so nicht. Warum?

Robert Gerwarth: Die Vorstellung von einem zeitlich klar umrissenen Ersten Weltkrieg ist stark geprägt vom Blick auf die Westfront. Aus der Sicht von Briten, Franzosen und Deutschen mag diese Chronologie stimmen. Doch auf viele andere beteiligte Staaten trifft sie nicht zu.

In Südosteuropa beginnt die Gewalteskalation schon 1912 mit den Balkankriegen. Für die USA beginnt der Erste Weltkrieg erst 1917, während Russland fast zeitgleich aus dem Krieg ausscheidet. Ich habe versucht darzulegen, dass für den Großteil der Staaten in Ostmittel- oder Südeuropa die Gewalt 1918 eben nicht endet.

Europa sei in den Jahren nach 1918 die "mit Abstand gewalttätigste Region der Welt" gewesen, sagen Sie. Welche Zahlen stützen das?

Konservativ geschätzt sterben in Europa in dieser Zeit mindestens vier Millionen Menschen als Resultat von Bürgerkriegen, Revolutionen und Gegenrevolutionen oder auch Pogromen. In Russland fordert der Bürgerkrieg die meisten Opfer. Auch wenn wir uns Ostmitteleuropa anschauen: In Polen, der Ukraine und dem Baltikum kann man wirklich nicht von Frieden sprechen. Insgesamt kommen zwischen 1918 und 1923 mehr Menschen gewaltsam ums Leben als britische, französische und amerikanische Soldaten zusammengenommen im gesamten Ersten Weltkrieg. In vielen Gesellschaften ist diese sogenannte Nachkriegszeit extrem gewaltreich.

Warum ist uns das bislang so wenig bewusst?

In Deutschland gibt es einen sehr westeuropäischen Blick auf die Geschichte, auch bedingt durch den Kalten Krieg und die Mauer. Erst in den letzten Jahren ändert sich der Blick der Historiker. Es hat sozusagen eine Osterweiterung des historischen Bewusstseins gegeben. In die Öffentlichkeit ist das noch nicht unbedingt durchgesickert. Es gibt allerdings süd- und ostmitteleuropäische Länder, in denen diese Nachkriegszeit bis heute sehr präsent ist. Das sind insbesondere jene, in denen es 1918 zu Nationalstaatsgründungen kam, wie zum Beispiel in Polen, oder zu Bürgerkriegen wie in Finnland.

Sie beschreiben einen riesengroßen geografischen Bogen von Finnland über Ostmitteleuropa bis hinein in den Balkan und Westanatolien. Warum bleibt in diesen Gebieten der Frieden aus?

Das enorme Gewaltpotenzial dieser Zeit speist sich aus zwei Quellen: dem Revolutionspotenzial in kriegsmüden Gesellschaften, die den Krieg verloren hatten, und dem Zusammenbruch der Landimperien. Ob man den Ersten Weltkrieg gewinnt oder verliert, macht einen großen Unterschied für die Stabilität eines Landes. In vielen Verliererstaaten werden in der Zwischenkriegszeit revisionistische Kräfte stark, zudem gibt es dort ein größeres Gewaltpotenzial als in den Siegerstaaten. In Frankreich und Großbritannien gibt es im Vergleich zu vor 1914 nach dem Weltkrieg keinen nennenswerten Anstieg von Gewalt. Das zeigt, dass die These, wonach eine Brutalisierung durch den Krieg Gesellschaften destabilisiert, zumindest als alleinige Erklärung nicht ausreicht.

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