Viele, die vielleicht noch nicht um die Zukunft des Abendlandes fürchten, aber dennoch das Gefühl haben, "die" Leute, zumal die jüngeren, wüssten nicht genug und interessierten sich zu wenig, klagen gern. Zum Repertoire dieser besonderen Form der Düsterkeit gehören Sätze wie diese: Es werden kaum mehr Bücher gelesen, und gerade von der Historie will niemand mehr etwas wissen.
Nun denn, der britische Historiker Ian Kershaw, seit geraumer Zeit Sir Ian, ist mit seiner Arbeit, die sich in etlichen Büchern zur Zeitgeschichte niederschlug, ein sehr gutes Argument gegen diesen Wahrnehmungspessimismus.
Kershaws zweibändige, dickleibige Hitler-Biografie, vor mehr als 15 Jahren erschienen, hat sich sehr gut verkauft; sie ist ein Maßstab für die moderne biografische Geschichtserzählung geworden. Auch seine nahezu spannend geschriebene Studie über das letzte Kriegsjahr in Europa ("Das Ende") gehört zu jenem Dutzend zeitgeschichtlicher Werke, die jene, die wissen wollen, was "der Krieg" war und was er bis zuletzt bedeutete, unbedingt gelesen haben sollten - viele haben es auch gelesen.
Zweiter Weltkrieg:"Was haben wir hier zu suchen?"
Das fragt sich ein deutscher Soldat an der Ostfront im Jahr 1941. Fast täglich schreibt Felix Elger im Zweiten Weltkrieg an seine Frau, die er nie mehr wiedersehen soll. Einige Auszüge.
Kershaws Bücher, aber auch zum Beispiel die Werke von Christopher Clark oder Jörn Leonhard zum Ersten Weltkrieg, Peter Longerichs Himmler-Biografie und natürlich Heinrich August Winklers "Geschichte des Westens" belegen höchst beeindruckend, dass die große Geschichtserzählung heute so sehr lebt wie kaum jemals zuvor in den letzten Jahrzehnten. "Die" Leute interessieren sich für Geschichte.
"Höllensturz", Kershaws jüngstes Monumentalwerk, passt zu dieser Entwicklung. Der zwischen Boulevard und Wagner changierende Titel sollte niemanden davon abhalten, sich mit dieser Geschichte Europas zwischen 1914 und 1949 zu beschäftigen. Im Original heißt der Wälzer "To Hell and Back: Europe 1914 - 1949".
Er ist Teil der herausragenden European-History-Reihe des britischen Penguin-Verlags, der zum Giganten Bertelsmann gehört. Sechs Bände unterschiedlicher Autoren sind bisher in dieser Reihe erschienen, "Höllensturz" ist der vorerst letzte. Abgeschlossen werden soll das Projekt, wiederum von Ian Kershaw, mit einer Geschichte Europas seit 1949, an der der heute 73-Jährige gerade sitzt.
Vielzahl territorialer Ansprüche
Kershaw erzählt und analysiert in seinem Buch die blutigsten 50 Jahre der europäischen Geschichte vor dem Hintergrund vier größerer Strömungen. Zum einen erläutert er die Rolle des aufkommenden Nationalismus, in freundlicheren Worten das Streben nach ethnischer Selbstbestimmung. Auch unter dem Druck der Nationalbewegungen zerbröseln die alten Imperien Österreich-Ungarn, Russland sowie das Osmanische Reich.
Handlungsleitend und manchmal brandbeschleunigend sind zweitens eine Fülle territorialer Ansprüche und mehr oder weniger gewalttätig vorgetragener Wünsche nach der Revision von Grenzen - auf dem Balkan, in Osteuropa, aber auch im Herzen des alten Kontinents, zwischen Frankreich und Deutschland etwa, wo der französische Anspruch auf die Restitution des Elsass und Lothringens vor 1914 eine ähnliche Wirkung hatte wie später die deutschen Verletzungen und politischen Aufwallungen durch die im Versailler Vertrag oktroyierten Gebietsabtretungen im Osten.
Zu den großen Verwerfungen zählt der Historiker des Weiteren das, was er den "Klassenkampf" nennt, der in den einzelnen Gesellschaften, aber auch zwischen Staaten wirkungsmächtig ist.
Die Sowjetunion, die berücksichtigt wird, aber nicht im Zentrum dieses Buchs steht, ist das tragende Beispiel dafür, was passieren konnte, wenn dieser Klassenkampf gewaltsam entschieden wurde, aber dann in eine, wie Kershaw es nennt, "dynamische Diktatur" umschlug. (Auch die Nazi-Herrschaft in Deutschland sowie Mussolinis Italien rechnet Kershaw unter diese dynamischen, weil expandierenden, sich verändernden, anpassungsfähigen Gewaltherrschaften.) Kershaw arbeitet die Gemeinsamkeiten der Diktaturen heraus, weiß aber sehr wohl und kundig zwischen den Spezifika der Gewaltherrschaftssysteme in Deutschland, Russland und Italien zu unterscheiden.
Zweiter Weltkrieg in der Sowjetunion:Hitler und Stalin - die Verblendeten
Adolf Hitler hielt die Sowjetunion für leichte Beute. Stalin war sich sicher, Hitler werde nicht angreifen. Warum beide Diktatoren 1941 so dramatisch irrten.
Zum Klassenkampf als dritter Bedingung für die europäische Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zählt schließlich als viertes Phänomen die krisenhafte Entwicklung des Kapitalismus, die im Börsencrash 1929 und den Folgejahren des Elends kulminiert. Kershaw zeigt und beschreibt schlüssig, wie und warum diese Krise den Aufstieg der Diktatoren gefördert hat, sodass in der zweiten Hälfte der Dreißigerjahre mehr als 60 Prozent der Menschen in Europa unter autoritären, demokratiefeindlichen Regimes lebten.
Kershaws "Höllensturz" ist gerade für das deutsche Publikum in doppelter Hinsicht interessant. Zum einen kann der Historiker, der sich so intensiv mit der Geschichte Deutschlands beschäftigt hat, dieses Vorleben nicht leugnen. Auch wenn Großbritannien und Frankreich relativ ausführlich berücksichtigt werden, rückt Deutschland doch immer wieder in den Vordergrund.
Das hat den etwas nachteiligen Effekt, dass manches Wichtige, etwa Englands Verstrickung in die Probleme des Empire, eher blass bleibt. Anderes, zum Beispiel die Geschichte des Baltikums oder auch die Wirrungen auf dem Balkan, werden nur kursorisch gestreift. Dem Gang der Erzählung tut dies allerdings kaum Abbruch.
Gerade Deutschlands Schuld wird deutlich
Zum anderen, und weil Kershaw so intensiv auf Deutschland unter Kaiser, Weimar und Hitler blickt, wird aber auch aufs Neue deutlich, wie und warum gerade das Reich ursächlich, mutwillig und heftigst den Höllensturz Europas herbeigeführt hat. Wer gerne mal denkt, irgendwie seien doch alle an allem schuld gewesen, der möge Kershaws Buch intensiv lesen.
Die Fehler zum Beispiel, die in London und Paris zwischen 1933 und 1939 gemacht wurden, beschreibt Kershaw schonungslos. Dass und wie aber diese Fehler von einem zum Äußersten entschlossenen Deutschland unter der NS-Führung ausgenutzt wurden, zeigt er ebenso schonungslos auf.
Ja, man weiß das. Und dennoch liest man es wieder mit Schaudern, wie die Nazis, nein: die Deutschen, nach und nach alles zerschlugen, was damals den Kulturraum Europa ausmachte. Notabene, blickt man aus dem heutigen, ziemlich wenig perfekten Europa nach Europa 1938, dann sieht man, wie viel Wert dieses Europa des Jahres 2016 doch hat.
Ian Kershaws Buch ist ein Lehrbuch im besten Sinne. Es lehrt, wie Geschichte erzählt werden kann, wie Geschichte erzählt werden sollte. Mit der Abschilderung von Feldzugsverläufen oder datenzentrierter Ereignisreihung hat diese Form der historischen Erzählung nichts zu tun.
Die manchmal kühne Auswahl aus der Fülle des Geschehens, das gelegentliche Springen zu anderen Schauplätzen und Ebenen dient dem Fluss des Lesens, auch wenn dies Ansatzpunkte für Kritik öffnet: Weder betreibt Kershaw Gesellschaftsgeschichtsschreibung, noch erfährt man viel aus der berühmten Perspektive der "kleinen Leute". Das aber sind angesichts des großen Bogens, der da gespannt wird, lässliche Sünden.
Kershaws Buch lehrt vor allem auch, dass Europas dunkelste Phase nur zwei Generationen von einer ziemlich hellen Zukunft des Kontinents "entfernt" liegt. Und es macht Lust auf seine eigene Fortsetzung, auf den vorläufig letzten Band der Geschichte Europas, wiederum verfasst von Ian Kershaw.