Viele, die vielleicht noch nicht um die Zukunft des Abendlandes fürchten, aber dennoch das Gefühl haben, "die" Leute, zumal die jüngeren, wüssten nicht genug und interessierten sich zu wenig, klagen gern. Zum Repertoire dieser besonderen Form der Düsterkeit gehören Sätze wie diese: Es werden kaum mehr Bücher gelesen, und gerade von der Historie will niemand mehr etwas wissen.
Nun denn, der britische Historiker Ian Kershaw, seit geraumer Zeit Sir Ian, ist mit seiner Arbeit, die sich in etlichen Büchern zur Zeitgeschichte niederschlug, ein sehr gutes Argument gegen diesen Wahrnehmungspessimismus.
Kershaws zweibändige, dickleibige Hitler-Biografie, vor mehr als 15 Jahren erschienen, hat sich sehr gut verkauft; sie ist ein Maßstab für die moderne biografische Geschichtserzählung geworden. Auch seine nahezu spannend geschriebene Studie über das letzte Kriegsjahr in Europa ("Das Ende") gehört zu jenem Dutzend zeitgeschichtlicher Werke, die jene, die wissen wollen, was "der Krieg" war und was er bis zuletzt bedeutete, unbedingt gelesen haben sollten - viele haben es auch gelesen.
Kershaws Bücher, aber auch zum Beispiel die Werke von Christopher Clark oder Jörn Leonhard zum Ersten Weltkrieg, Peter Longerichs Himmler-Biografie und natürlich Heinrich August Winklers "Geschichte des Westens" belegen höchst beeindruckend, dass die große Geschichtserzählung heute so sehr lebt wie kaum jemals zuvor in den letzten Jahrzehnten. "Die" Leute interessieren sich für Geschichte.
"Höllensturz", Kershaws jüngstes Monumentalwerk, passt zu dieser Entwicklung. Der zwischen Boulevard und Wagner changierende Titel sollte niemanden davon abhalten, sich mit dieser Geschichte Europas zwischen 1914 und 1949 zu beschäftigen. Im Original heißt der Wälzer "To Hell and Back: Europe 1914 - 1949".
Er ist Teil der herausragenden European-History-Reihe des britischen Penguin-Verlags, der zum Giganten Bertelsmann gehört. Sechs Bände unterschiedlicher Autoren sind bisher in dieser Reihe erschienen, "Höllensturz" ist der vorerst letzte. Abgeschlossen werden soll das Projekt, wiederum von Ian Kershaw, mit einer Geschichte Europas seit 1949, an der der heute 73-Jährige gerade sitzt.
Vielzahl territorialer Ansprüche
Kershaw erzählt und analysiert in seinem Buch die blutigsten 50 Jahre der europäischen Geschichte vor dem Hintergrund vier größerer Strömungen. Zum einen erläutert er die Rolle des aufkommenden Nationalismus, in freundlicheren Worten das Streben nach ethnischer Selbstbestimmung. Auch unter dem Druck der Nationalbewegungen zerbröseln die alten Imperien Österreich-Ungarn, Russland sowie das Osmanische Reich.
Handlungsleitend und manchmal brandbeschleunigend sind zweitens eine Fülle territorialer Ansprüche und mehr oder weniger gewalttätig vorgetragener Wünsche nach der Revision von Grenzen - auf dem Balkan, in Osteuropa, aber auch im Herzen des alten Kontinents, zwischen Frankreich und Deutschland etwa, wo der französische Anspruch auf die Restitution des Elsass und Lothringens vor 1914 eine ähnliche Wirkung hatte wie später die deutschen Verletzungen und politischen Aufwallungen durch die im Versailler Vertrag oktroyierten Gebietsabtretungen im Osten.