Erster Weltkrieg:Die Brüder, die der Krieg zu Feinden machte

Frantisek/Josef Dus

Josef Dus als Turner

(Foto: Oliver Das Gupta)

Die Tschechen Josef und František Dus sterben im Ersten Weltkrieg an der Ostfront - der eine für Österreich, der andere auf russischer Seite. Rekonstruktion einer tragischen Geschichte.

Von Oliver Das Gupta, Prag/Königgrätz

Was der Legionär Josef wohl zuletzt sah? Gras vergilbte, erste Blätter welkten an diesem Spätsommertag. Traumhaft schön soll die Umgebung gewesen sein, erzählten seine Mitstreiter später. Wälder, von Wasserläufen durchzogen und von Lichtungen geteilt, der Boden war morastig.

Der Trupp war in ein Dorf gekommen, das tief im größten Moorgebiet Europas verborgen lag, den Pripjatsümpfen. Friedlich war es dort, ganz anders, als die neun Monate zuvor, die die Männer gekämpft, getötet und überlebt hatten. Bald durften sie Urlaub machen, sagte man ihnen, ein paar Wochen leben ohne Krieg. Alles Brot war gegessen, die Ablösung kam nicht. Drei Tage warteten sie. Dann zogen Josef und Kamerad Maurer los.

Klang eines Kompromisslosen

Es stand nicht gut im September 1915 für Russland, auf dessen Seite Josef kämpfte. Im zweiten Jahr des Ersten Weltkrieges hatten die Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn die Armee des Zaren zurückgeworfen bis ins heutige Weißrussland, bis zu den Sümpfen.

Wie weit der Feind vorgedrungen war, und wo die Ablösung bleibt, das sollten Josef und Maurer auskundschaften. Die Späher wurden entdeckt und beschossen. Eine Kugel traf Josef in den Bauch. Maurer wurde leicht verletzt und lief davon, Hilfe holen. Den nächsten Tag suchten die Kameraden nach Josef, erfolglos. Im Dezember fanden russische Soldaten seine Leiche. Er war wohl verblutet. Josef war gerade 24 geworden.

Dass er den Krieg nicht überleben würde, ahnte er lange vorher. "Es wäre äußerst verwunderlich, wenn ich zurückkäme", schrieb er seinen Eltern. Josef berief sich auf "göttliche Vorsehung", die über sein Schicksal entscheidet.

Tote russische Soldaten im 1. Weltkrieg, 1915

Gefallene russische Soldaten im Stacheldraht vor einer deutschen Stellung an der Ostfront 1915

(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Es ist der Klang eines Kompromisslosen, der auch noch 100 Jahre später überall auf der Welt zum Repertoire fanatischer Nationalisten gehört. Er wolle stolz und treu sein, hieß es in Josefs letztem Brief, den er wenige Wochen nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges im Sommer 1914 verfasste.

Es ist ein Krieg, in den auch František von Prag aus ziehen musste. Vorher wollte er alles ordentlich hinterlassen. Als leitender Angestellter in einem Bauunternehmen freute er sich, dass gerade noch ein Lagerhaus in Brod fertiggestellt worden war, wie er in einem Brief an seine Eltern am 1. August schrieb. Am letzten Tag vor der Abfahrt an die Front kümmerte er sich noch um die Buchführung und tröstete seine Verlobte, "das arme Kind".

František wollte nicht in den Krieg ziehen, von dem er fürchtete, dass er "gnadenlos" werden würde. Aber er gehorchte dem Ruf der kaiserlich und königlichen Militärverwaltung: "Was sein muss, lässt sich nicht umgehen", schrieb er nüchtern. Er hoffte, dass der Krieg "schnell und ruhig ausgeht". Am Ende seines Briefes sendete er "viele Küsse an alle".

"Mein letztes Wort wird 'Heimat' sein", heißt es im letzten Brief

Zwei Briefe von Soldaten verfeindeter Mächte, die an dieselben Empfänger gerichtet waren: an die Eheleute Dus, die im nordböhmischen Velký Vřešťov (Groß Bürglitz) lebten. Viel mehr als aus den Schreiben erfuhren sie nicht vom Verbleib ihrer Söhne František und Josef. Der Kaisertreue kämpfte gegen den Russenfreund, bis der Krieg sie beide verschlang.

"Mein letztes Wort wird 'Heimat' sein", schrieb der kleine Bruder Josef im August 1914 in seinem letzten Brief an seine Eltern. Heimat, das war Tschechien, damals ein Teil des österreichischen Vielvölkerstaats.

Frantisek/Josef Dus

Signatur von Josef Dus auf einem der erhaltenen Briefe, die er den Eltern aus Russland geschrieben hat.

(Foto: Oliver Das Gupta)

Über das morsche Imperium herrschte der greise Kaiser Franz Josef I. Als der Monarch sich entschloss, Serbien den Krieg zu erklären und damit den Weltenbrand entflammte, brodelte es in Böhmen und Mähren längst. Die Verhandlungen über einen Ausgleich im Sprachen- und Nationalitätenstreit waren gescheitert, Separatisten erhielten starken Zulauf.

Josef Dus war einer von denen, die von einem unabhängigen tschechischen Staat träumten. Schon vor dem Krieg war er nach Moskau ausgewandert, wo er als Feinmechaniker arbeitete. Seine Freizeit verbrachte er oft im Sokol, einer nationalistisch gesinnten Turnvereinigung.

Propaganda putscht auf

Anfang August 1914 brach der Krieg aus. Josef und andere in Russland lebende Tschechen organisierten sich zur Česká družina, der Tschechischen Gefolgschaft. Die jungen Tschechen erreichten, im zaristischen Heer kämpfen zu dürfen als eine Einheit, die später als Tschechoslowakische Legion in die Geschichte einging.

In den Folgejahren sollte die Einheit durch Kriegsgefangene auf mehrere Zehntausend Mann anwachsen. Die Truppe kämpfte an der Front, lieferte sich Scharmützel im russischen Bürgerkrieg und kehrte schließlich in die Heimat zurück, die nun Tschechoslowakische Republik hieß.

Im Sommer 1914 umfasste die Legion nicht mehr als 1000 Mann, eine kleine Truppe, die wild entschlossen war, zu kämpfen. Propaganda putschte die jungen Männer auf, von deutschen Gräueln gegen Tschechen war die Rede. "Das Blut braust", schrieb Josef, "die Hand hebt sich gegen die rohe teutonische Oberherrschaft". Der Augenblick sei gekommen, "mit Hilfe des russischen Riesen den Deutschen die alte Schuld zurückzuzahlen, auch mit Zinsen".

Anfang September 1914 wurden die Tschechen nach Kiew verlegt, später ging es an die Front nach Galizien, wo das Russische Reich an Österreich-Ungarn grenzte. Josef machte sich Gedanken, was der Krieg aus seiner Familie macht.

Er erkundigte sich im Brief nach František und nannte ihn bei seinem Kosenamen: "Es interessiert mich auch das Schicksal des Bruders Franta, ebenso auch der beiden Schwager", meinte er und fragte: "Sind sie auch Soldaten?" Seine Verwandten würden im Krieg nun gegen Russen kämpfen, gegen "Brüder nach dem Blut - oh Schreck". Er bat seine Geschwister, und damit auch Bruder František: "Denkt an mich nur mit Liebe."

Zuletzt hatten sich Josef und František 1912 gesehen. Während der Olympischen Spiele in Stockholm war der Turnwart noch einmal in die böhmische Heimat gefahren zum "Allslawischen Sokolkongress", einer Großveranstaltung, mit der die Tschechen ihren Unabhängigkeitswillen zeigten. Josef besuchte noch einmal sein Elternhaus in Velký Vřešťov nahe der Stadt Königgrätz (Hradec Králové), die deswegen bekannt ist, weil dort die Preußen 1866 den Österreichern eine vernichtende Niederlage zugefügt hatten.

František Dus bestieg am 2. August 1914 in Prag den Zug, der ihn an die Ostgrenze des Habsburger-Reiches brachte. Als Zielort nannte er im Brief Stanislaw, eine Stadt, die heute in der Ukraine liegt und den Namen Iwano-Frankiwsk trägt. Es ist der letzte gesicherte Aufenthaltsort von František Dus.

Frantisek/Josef Dus

Gruppenbild mit František Dus (2 v.re.) kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges.

(Foto: Oliver Das Gupta)

Als Fähnrich wäre er wohl zum Offizier befördert worden, wenn er länger gelebt hätte. Böhmen und Mähren stellten zwar etwa 13 Prozent der Gesamtbevölkerung des Reiches, doch der Anteil der Tschechen am Offizierskorps lag lediglich bei fünf bis acht Prozent.

Das Missverhältnis gründete auch auf dem zweifelhaften Ruf, der den Tschechen bei der österreichischen Armeeführung nachgesagt wurde. Tschechische Soldaten galten schon vor Kriegsbeginn als unzuverlässig, feige und manchem Militär als potenzielle Verräter. Die Desertionen mehrten sich während des Krieges in manchen tschechischen Regimentern, andere Einheiten sollen besonders tapfer gekämpft haben.

Das Misstrauen Wiens ging so weit, dass die Justiz wegen prorussischer Umtriebe in Tschechien hart durchgriff und Todesurteile vollstrecken ließ. Das Armeeoberkommando verlangte von der Regierung sogar, das Standrecht über Böhmen und Mähren zu verhängen.

Der Gaskrieg ließ den dritten Bruder nicht mehr los

Die militärischen Lenker der Doppelmonarchie um Generalstabschef Franz Conrad von Hötzendorf waren siegesgewiss gegen Serbien und Russland in den Krieg gezogen. Ihre Überheblichkeit und schlechte Truppenführung kostete allein in den ersten zehn Kriegsmonaten mehr als 180 000 Armeeangehörigen das Leben. 1914 lag die Zahl der Verluste - Tote, Verletzte, Kranke und Gefangene - wohl bei mehr als einer Million Soldaten.

Es war ein Aderlass, von dem sich Österreich-Ungarn nicht mehr erholen sollte. Um eigene Inkompetenz zu überspielen, lasteten die Führer der k. u. k. Streitkräfte die Verantwortung für Rückschläge mitunter tschechischen Einheiten an, so auch bei den Kämpfen in Galizien 1914, die sich zur militärischen Katastrophe für Österreich-Ungarn auswuchsen.

Einmarsch russischer Infanterie in Lemberg 1914

Einmarsch russischer Infanterie in Lemberg 1914

(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Generalstabsoffizier Theodor Ritter von Zeynek behauptete etwa, die besonders bittere und blutige Niederlage bei Lemberg und Grodek sei durch das Versagen einer Division verschuldet worden, die einen besonders hohen Anteil an Tschechen aufwies.

Die Schlacht von Lemberg und Gródek war eines der furchtbarsten Gemetzel in dieser frühen Phase des Krieges. "Sterbende Krieger, die wilde Klage Ihrer zerbrochenen Münder", dichtete Georg Trakl über das Grauen, das er als österreichischer Sanitätsleutnant in Gródek sehen musste. Vor seinem Feldlazarett hingen die Leichen von Ukrainern von den Bäumen - die Österreicher hatten sie verdächtigt, gemeinsame Sache mit den Russen zu machen. Im Lazarett musste Trakl dem Sterben tatenlos zusehen.

Wegen fehlender Medikamente konnte er die Schmerzen der tödlich Verwundeten nicht lindern und die leichter Verletzten nicht retten. In einem ähnlichen Lazarett lag Fähnrich Dus, auch er konnte nicht richtig behandelt werden. František erlag im Alter von 27 Jahren einer Infektion. Was seine letzten Worte waren, ob er einen weiteren Brief an seine Lieben schrieb - all das blieb im Dunklen.

szw

Dieser Text stammt aus dem SZ-Buch "Menschen im Krieg". Unter sz-shop.de. 24,90 €, für SZ-Abonnenten 21,10 €

Zeit war wohl zu knapp, denn die Front rollte gen Westen: Die Zaren-Armee hatte erfahrene austriakische Einheiten aufgerieben und trieb die verbliebenen Soldaten des Kaisers nun vor sich her. Die Russen drangen bis zu den Karpaten vor, bedrohten Krakau, besetzten wertvolle Agrargebiete und Ölfelder in Galizien. Sie belagerten die Garnisonstadt Przemyśl.

Tschechoslowakische Legionäre kämpften mit den Russen, wie das österreichische Militär damals dort feststellte. Josef Dus war wohl auch vor Ort. Auf dem direkten Weg von Kiew nach Przemyśl dürfte er durch Lemberg und Gródek gekommen sein. Auf diese Weise sind sich die Brüder vielleicht noch einmal sehr nahe gekommen.

Wovon Josef träumte, hat er in seinem Brief vom Sommer 1914 beschrieben: "Mit russischem Militär in unser goldenes Mütterchen Prag einmarschieren und die Herrschaft der gehassten Feinde beenden". Ein schlechtes Gewissen zeigte er auch. "Verzeiht mir, wenn ich euch bekümmert habe", schrieb er, "auch diesen letzten Schritt, den ihr vielleicht als vernünftige Leute nicht gutheißt, den ihr als Tschechen aber auch nicht ablehnt".

Vereint auf der Tafel des Kriegerdenkmals

Im zweiten Kriegsjahr erlahmte die russische Offensivkraft. Die Mittelmächte eroberten verlorenes Terrain zurück und stießen im Spätsommer weiter nach Russland vor, bis zu den Pripjatsümpfen. Dort starb Josef Dus, fern der Heimat, die er von österreichischer Herrschaft befreien wollte.

Sein Schwager Václav, den er in seinem Brief auch erwähnt hatte, überlebte den mörderischen Einsatz an der Südfront in Italien. Er wollte nicht kämpfen, und schon gar nicht gegen seinen Schwager Josef, erzählen seine Nachfahren.

Darum dersertierte Václav und ging freiwillig in Kriegsgefangenschaft. Traumatisiert kehrte er aus dem Krieg zurück. Der Gaskrieg ließ ihn nicht los, immer wieder dachte er, es gebe Attacken mit chemischen Kampfstoffen. Den Nachbarn kam Václav seltsam vor, erzählen die Nachfahren. Er starb 1938.

Im selben Jahr annektierte Hitler-Deutschland Teile des Landes, die Slowakei spaltete sich ab. Im Folgejahr marschierten die Deutschen im Tschechien ein und errichteten ein Terrorregime. Wenig später überfiel das NS-Regime Polen, der nächste Weltkrieg entbrannte.

Die so unterschiedlichen Gebrüder František und Josef kamen qualvoll um. Ihre Gebeine liegen irgendwo im heutigen Weißrussland und in der Ukraine, Gräber sind keine bekannt.

Doch in ihrem Heimatort sind sie symbolisch wieder vereint. "Gefallen und gestorben im Weltkrieg", steht auf der Inschrift des Kriegerdenkmals mit den Namen von František, Josef und neun weiteren Toten. "Schlaft in Frieden, zu Hause und in der Ferne, Väter, Söhne, Brüder".

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