Der Mann scheint die Ruhe wegzuhaben. Er steigt ohne Eile an der Fahrerseite aus einem Auto, stellt sich dahinter und schießt mehrmals. Er trägt Military-Kleidung und verwendet ein Gewehr, das er nach jedem Schuss in Ruhe nachlädt. Es sind verstörende Bilder aus dem Paulus-Viertel, einem Gründerzeit-Kiez mitten in Halle. Aufgenommen hat sie offenbar ein Augenzeuge per Zoom und Handy von hinten; die Bilder sind körnig und nicht sehr scharf, aber scharf genug, um eine neue Dimension der Gewalt in Deutschland zu zeigen, Terror, offen und am helllichten Tag. Mindestens zwei Tote gab es an diesem Tag.
Wer aber dieser Mann ist und was sein Motiv, das blieb am Mittwochnachmittag lange unklar. Erst am Abend tauchte ein gespenstisches Selbstbezichtigungs-Video eines jungen Mannes auf. Wie WDR, NDR und Süddeutsche Zeitung aus Sicherheitskreisen erfuhren, heißt der Täter Stephan B., er drehte offenbar ein Video und stellte es ins Internet. Die Ermittlungsbehörden erinnert sein Vorgehen an jenes des Täters im neuseeländischen Christchurch. Nach den bisherigen Erkenntnissen handelt es sich bei B. eher um einen Einzeltäter. Ein rechtsextremer Hintergrund gilt als höchstwahrscheinlich. B. filmte seine Taten und lud das Video bei einem Livestreaming-Dienst hoch. Kurze Zeit später löschte dieser jedoch die Aufnahme. Das Video, das die SZ einsah, dauert knapp 36 Minuten. Gleich zu Beginn leugnet der junge Mann mit Glatze in schlechtem Englisch den Holocaust und hetzt gegen Juden, Feminismus und Flüchtlinge, er sagt: "Die Wurzel all dieser Probleme ist der Jude."
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Der Rest des Videos zeigt die Terroranschläge auf Synagoge und Dönerladen, begangen gegen 12 Uhr mittags. Der Täter hatte sich die Kamera auf den Helm montiert und filmte seine Morde aus der Ich-Perspektive wie in einem Videospiel. In der Synagoge hält ihn die Eingangstür aus Holz auf, er flucht und erschießt kurz darauf eine Frau aus nächster Nähe. Vor dem Dönerladen versagen bald seine offenbar selbstgebauten Waffen. Später gibt er Schüsse auf einen Polizeiwagen ab, dabei bricht seine Ausrüstung auseinander. Von einem Komplizen ist nichts zu sehen.
Eine offizielle Bestätigung, dass dieser Mann und der Schütze ein- und dieselbe Person sind, gab es am Mittwoch noch nicht, auch wenn es als wahrscheinlich gilt.
Der mutmaßliche Täter stellt sich im Video als "Anon" vor, die Kurzform von "Anonymous". Diesen Nutzernamen bekommt, wer auf der Internetseite 4chan etwas postet, ohne seinen Namen preisgeben zu wollen. 4chan gilt als Geburtsort der rechtsradikalen Alt-Right-Bewegung. Auch der Täter von Christchurch in Neuseeland, der 51 Menschen erschoss und seine Tat live filmte, ließ vor dem Attentat Insiderwitze aus der 4chan-Unkultur fallen, um seine Zugehörigkeit zu ihr zu signalisieren; anschließend wurde er dort gefeiert.
B. griff zuerst die Synagoge an. Dort hätte es womöglich ein noch Schlimmeres Blutbad gegeben, wäre es dem Täter geglückt hineinzukommen. 70 bis 80 Menschen befanden sich im Gotteshaus, einem schönen Bau im maurischen Stil mit Kuppeltürmchen, und begingen den höchsten jüdischen Feiertag, Jom Kippur, das Fest der Versöhnung, das ein Tag des Fastens und des Ruhens sein soll. Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Halle, Max Privorozki, sagte der Presse und später per Twitter-Video: "Wir haben über die Kamera unserer Synagoge gesehen, dass ein schwer bewaffneter Täter mit Stahlhelm und Gewehr versucht hat, unsere Türen aufzuschießen. Der Mann sah aus wie von einer Spezialeinheit. Aber unsere Türen haben gehalten." Die Menschen im Innern blockierten die Eingänge mit Mobiliar. Der Täter habe zudem versucht, das Tor des neben der Synagoge liegenden Friedhofs aufzuschießen. Die Menschen im Gotteshaus seien geschockt gewesen. "Wir haben die Türen von innen verbarrikadiert und auf die Polizei gewartet." Diese sei aber erst zehn Minuten nach dem Notruf eingetroffen.
Danach erschoss der Angreifer eine Passantin und attackierte den Dönerladen im selben Viertel. Konrad R., ein junger Mann, der gerade mit anderen Personen in dem Imbiss war, sagte dem Sender ntv, einer der Toten sei ein Gast, der versucht habe, sich in Sicherheit zu bringen, offenbar ein Maler von einer nahen Baustelle. Mehrere Menschen seien aus dem Laden geflohen, er selbst habe sich auf der Toilette versteckt. Dort habe er seine Familie informiert und ihr geschrieben, dass er sie liebe. Bald danach habe er Polizisten rufen hören, ob jemand in den Räumen sei, und sei heraus gekommen. R. sagte, er habe den vermummten Angreifer kommen sehen, dieser habe eine Granate und ein Gewehr getragen. Er habe die Granate geworfen, sie sei aber am Türrahmen abgeprallt. Dann habe der Mann durch die Scheibe geschossen.
Das Ganze habe nur Sekunden gedauert. Der exakte Hergang des Verbrechens liegt am Mittwoch noch bis in den Abend hinein im Nebel von widersprüchlichen Berichten, Internet-Gerüchten und Bruchstücken von Informationen. Manches erinnert an den Münchner Amoklauf 2016, als ein 18-Jähriger im Olympia-Einkaufszentrum neun junge Menschen und sich selbst erschoss und die Stadt bebte vor Angst und immer neuen Falschmeldungen, wo überall Schüsse gefallen seien. Die Polizei in Halle mobilisiert am Mittwoch alle Kräfte. Schwer bewaffnete Polizisten durchkämmen das Paulusviertel. Etwa 30 Meter von der Synagoge entfernt liegt am Mittag eine Leiche, mit einer Plane abgedeckt. Daneben ein schwarzer Rucksack, an dem eine kleine Stoffente hängt. In der Uniklinik werden zwei weitere Opfer notoperiert, sie sind außer Lebensgefahr. Am Himmel kreisen Helikopter. Die Stadt Halle warnt: Es gebe eine "Amoklage".
Anfangs teilt die Polizei mit, mehrere bewaffnete Täter seien in einem Auto geflüchtet. Dann meldet sie: In Landsberg, rund 15 Kilometer östlich von Halle, fallen ebenfalls Schüsse. Hier soll B. versucht haben, ein Auto zu rauben. Auf der Flucht wird er offenbar von der Polizei angeschossen oder versucht, sich das Leben zu nehmen. Am Nachmittag wird im Süden Sachsen-Anhalts ein Verdächtiger festgenommen, über dessen Identität die Behörden keine Angaben machen; später sickert durch, es handele sich um einen weißen Deutschen.
Das Video von B. scheint dies zu bestätigen. Etwa 700 Juden gehören der Gemeinde in Halle an, die wie viele in Deutschland nach der Wende von 1989 wieder einen bemerkenswerten Aufschwung nahm. Es gibt in der Stadt noch eine zweite Synagoge, jene der kleineren reformierten Gemeinde. Ihr Vorsitzender, Karl Sommer, erfuhr erst Stunden nach der Tat Einzelheiten. Wegen des Feiertags hatte er, entsprechend der religiösen Sitte, weder Fernsehen noch Radio eingeschaltet. "Da schweigen alle Geigen", sagte er. "Wir sind sprachlos. Der Antisemitismus zeigt wieder seine Fratze. Es wird immer schlimmer."
Die Tat weckt böse Erinnerungen an den NSU, jene Terrorzelle, die neun Männer mit Migrationshintergrund und eine Polizistin ermordet hatte. Die jüngsten Warnungen vor rechtem Terror waren nicht grundlos: In diesem Jahr wurde der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke (CDU) mutmaßlich von einem Neonazi umgebracht. Kurz vor den Schüssen in Halle hatten Fahnder Räume von rechtsextremen Beschuldigten aus Bayern, Baden-Württemberg, Thüringen und Sachsen-Anhalt durchsucht. Sie sollen Moscheen und Politiker bedroht haben. Laut Polizei gab es aber keine Hinweise auf einen Zusammenhang mit den Verbrechen in Halle.
In der Synagoge dort setzten die Gläubigen ihren Gottesdienst übrigens später fort. Das Gebäude verließen sie erst am Abend, viele wurden psychologisch betreut. Der Versöhnungstag Jom Kippur schließt mit dem Gebet der "Ne'ila". Es ist ein Appell an die Barmherzigkeit Gottes, bevor sich die Himmelstore schließen.