Als er den Mann mit dem blauen Anzug und der blauen Krawatte sieht, erhebt er sich ein paar Zentimeter von seinem Stuhl, "viel Erfolg am Sonntag!" ruft er hinüber, und seine Frau, die neben ihm sitzt, nickt zustimmend. Der Anzugträger schreitet lächelnd auf die beiden zu, greift ihre Hände, tätschelt ihre Schultern. Spiros Richard Hagabimana heißt er, stammt aus Burundi, Ostafrika, kam einst als politisch Verfolgter nach Griechenland, und jetzt macht er als lokaler Kandidat Wahlkampf für die in Teilen liberal-konservative, in Teilen strammrechte Regierungspartei Nea Dimokratia (ND). Das wirft eine Reihe von Fragen auf, aber der Mann vor dem Café, der sich gerade offen als Unterstützer und Wähler zu erkennen gibt, hat sie für sich selbst längst beantwortet.
Er wähle die Konservativen, ganz klar: Kyriakos Mitsotakis, der konservative Amtsinhaber, sei "ein Mann, der in der ersten Amtszeit 95 Prozent seiner Versprechen wahrgemacht hat." Zum Beispiel diese: "Er hat den Mindestlohn erhöht, er hat die Immobiliensteuer gesenkt. Und er hat die Grenzen geschlossen, so dass nicht mehr Migranten in Strömen kommen." Das sei keineswegs rassistisch gemeint, fügt er sofort hinzu, und wie zum Beleg wirft er dem afrikanischstämmigen Kandidaten Hagabimana ein aufmunterndes Lächeln zu.
Korydallos, Wahldistrikt Piräus B, eine der ärmsten Gegenden der griechischen Hauptstadtregion. Ein Arbeiterviertel am westlichen Rand von Athen, überdurchschnittlich gebeutelt von der Wirtschaftskrise und der brutalen Spar- und Kürzungspolitik, die Griechenland damals von der "Troika" aus EU-Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds aufgezwungen bekam.
Nach der gängigen Lehre müssten hier eigentlich linke Parteien einen Heimsieg feiern, aber diesmal ist alles anders. Beim ersten Wahlgang dieses Jahr, am 21. Mai, ist die linke Syriza gegenüber 2019 von 38,22 auf 20,75 Prozent abgestürzt, und die konservative Nea Dimokratia schnellte von 30,19 auf 37,44 Prozent hoch. Allen Prognosen zufolge werden die Ergebnisse an diesem Sonntag, wenn die Griechen erneut an die Urnen gehen, ganz ähnlich ausfallen.
Syriza, so scheint es, hat ihre Kernwählerschaft verloren. Was ist da passiert?
Der Mann am Cafétisch, Panagiotis Papadakis heißt er, erzählt, er habe früher selbst Syriza gewählt, mit Alexis Tsipras an der Spitze. Dem Mann, der der Troika die Stirn bot. Der nach seiner Wahl im Krisenjahr 2015 die Griechen zur Volksabstimmung bat und sie aufrief, mit "Ochi" zu stimmen, mit Nein. Nein zu den Sparauflagen der Troika. 61 Prozent kreuzten "Ochi" an. Und dann setzte der Regierungschef doch das meiste von dem um, was die Gläubiger forderten.
"Tsipras hat die Empörung der Menschen ausgenutzt. Wir haben ihm geglaubt", sagt Panagiotis Papadakis, die Lesebrille am Band baumelt vor seiner Brust. "Und dann hat er nichts davon wahrgemacht, was er versprochen hat." Panagiotis Papadakis, 53, arbeitete früher als Mechaniker auf einer der großen Werften von Piräus, nach einem Unfall wurde er berufsunfähig. Seine Rente wurde ihm in den Krisenjahren schrittweise gekürzt, von anfangs 1450 auf schließlich 668 Euro: "Ich wusste nicht mehr, wie ich den Kredit abzahlen sollte, den ich für unsere Wohnung aufgenommen hatte.
"Ein Gefühl von Stabilität"
Inzwischen liege seine Rente immerhin wieder bei 1040 Euro im Monat, sagt er - was allerdings zu wesentlichen Teilen daher rührt, dass der Grad seiner Invalidität hochgestuft wurde. Und die erste reguläre Rentenerhöhung gab es 2018 - als noch die linke Syriza regierte. Was also hat der Konservative Mitsotakis seit seinem Amtsantritt 2019 für ihn ganz konkret verbessert?
Panagiotis Papadakis überlegt kurz, dann sagt er: "Er hat uns ein Gefühl von Stabilität gegeben, trotz der Corona-Pandemie, dem Krieg in der Ukraine. Wunder sind hier in der Gegend keine passiert. Aber er hat Ruhe ins Land gebracht."
Was der Mann sagt, bestätigt die Einschätzungen diverser Analysten: Die Stärke von Mitsotakis basiert wesentlich auf der Schwäche der Opposition. Und auf seinem sorgsam gehegten Image als smarter Modernisierer, verbunden mit dem simplen Motto "Stabilität oder Chaos": Es wirkt offenbar so wetterfest, dass die Affären der vergangenen Monate daran abperlen.
Die Abhör-Aktionen des Geheimdienstes gegen Politiker und Journalisten, die Zugkatastrophe bei Tempi, in der mindestens 57 vor allem junge Menschen starben. Und schließlich: der brutale Umgang mit Schutzsuchenden an der EU-Außengrenze, illegale Pushbacks, die jüngsten Vorwürfe gegen die Küstenwache, am Tod Hunderter Menschen bei einem schweren Bootsunglück zumindest mitschuldig zu sein.
"Wir machen keine Pushbacks, wir sichern unsere Grenzen", sagt Spiros Richard Hagabimana, der Kandidat der ND in Piräus, bei einem Spaziergang durchs Viertel. Er war früher leitender Polizeibeamter in Burundi, wurde ins Gefängnis gesperrt, weil er sich weigerte, auf Demonstranten schießen zu lassen. Da er zuvor in Athen studiert hatte, besaß er zu dem Zeitpunkt schon einen griechischen Pass, kam also vergleichsweise einfach nach Europa. Aber was ist mit denen, die nicht ein solches Privileg haben? Die ihr Leben in einen überfüllten Fischkutter legen, in der vagen Hoffnung, irgendwie einen Zipfel europäischer Küste zu erreichen? Haben sie nicht den gleichen Schutz verdient?
Das Recht auf Asyl sei eine "heilige Institution", sagt Hagabimana. Europa müsse für politisch Verfolgte mehr Möglichkeiten schaffen, schon an den Grenzen ihrer Herkunftsländer in Sicherheit zu gelangen. Und "Wirtschaftsmigranten" müsse man Wege der legalen Einwanderung bieten. "Zugleich aber müssen wir unsere Grenzen streng kontrollieren. Wenn man die Grenzen einfach offen lässt, macht man sich zum Komplizen der Schlepper." Das sei die Essenz der Migrationspolitik seiner Partei: "gerecht und strikt zugleich. Wie das bei den Wählern ankommt, das hören Sie ja hier in den Straßen."
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Am Abend dann hat Alexis Tsipras, der Oppositionskandidat, seinen Auftritt auf dem zentralen Platz von Korydallos. Ein paar Hundert Menschen haben sich versammelt. Kurz bevor er auf die kleine Bühne steigt, donnert der Punk-Klassiker "I fought the law" aus den Boxen. Tsipras zählt dann einiges auf, was seine Regierung zwischen 2015 und 2019 erreicht habe: 2,5 Millionen zuvor Unversicherte in die gesetzliche Krankenversicherung gebracht. Der Nachfolgeregierung fast 40 Milliarden Euro im Staatshaushalt überlassen, nachdem der Staat zuvor komplett pleite war. Es klingt nicht trotzig, eher abgeklärt. "Es ist wichtig, dass wir auch nach den Wahlen am 25. Juni zusammenhalten und weiterkämpfen", ruft Tsipras in den Jubel seiner Anhänger.
Zoi Tsourma, 58, Verwaltungsbeamtin in Bildungsministerium, steht noch am Rand des Platzes, als sich die Menge wieder aufgelöst hat. Tsipras sei ein Mann, der "versteht, was die wahren Probleme des Volkes sind", sagt sie.
Die Vorwürfe, er habe trotz anderer Versprechen rabiate Sparmaßnahmen durchgezogen, findet sie unfair: "Was er umgesetzt hat, war vorher schon unterschrieben. Er war nicht er selbst in diesen vier Jahren. Wir schulden ihm eine weitere Chance."
Als sich die Dunkelheit über Korydallos senkt, gehört der Platz den jungen Paaren, die hier Hand in Hand durchs gleißende Laternenlicht schlendern. "Ich war da, als Tsipras vorhin geredet hat", sagt Andreu Burcas, 22 Jahre: "Aber ich höre gar nicht mehr zu. Für mich sind die Politiker alle gleich."
Er arbeite als Bauarbeiter, für 900 Euro im Monat, und seit die Gegend eine U-Bahn-Anbindung bekommen hat, seien die Mieten extrem gestiegen. Keine Chance, eine Wohnung zu finden, für sich und seine Freundin Georgella Glynou, die neben ihm steht und noch zur Schule geht: "Egal, was du für eine Diplom hast", sagt sie, "egal, wie gut deine Abschluss ist: Du endest bestenfalls als Bedienung in einem der Cafés hier ringsherum. Oder als Pizzafahrer."
Dass Griechenland ihnen in Zukunft nennenswerte Chancen bieten könnte, daran wollen die beiden nicht glauben. Ganz egal, wer die nächsten vier Jahre regiert.