Griechenland:Eine Politik, in der die Wahrheit nur eine Möglichkeit ist

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Möchte wieder Premier werden: Kyriakos Mitsotakis. (Foto: LOUIZA VRADI/REUTERS)

Seit Jahren macht Griechenland eine Migrationspolitik, zu der auch illegale Pushbacks gehören. Die Küstenwache muss in diesem Klima keine Rechenschaft ablegen - Tragödien wie in der vergangenen Woche werden offenbar in Kauf genommen.

Kommentar von Raphael Geiger

Kyriakos Mitsotakis macht einen seriösen Eindruck. Das kann er gut. Er feiert sich als Anti-Populisten. Er gibt sich als moderner Konservativer, der sich für LGBTQ-Rechte einsetzt. Mitsotakis hat Griechenland ein neues Gesicht gegeben, er steht für das Ende der ewigen Krise im Land. Jedenfalls verkauft er sich so.

Mitsotakis regiert in Athen seit 2019. Bei der ersten Wahl im Mai verpasste seine "Nea Dimokratia" knapp die Mehrheit, seitdem regiert an seiner Stelle ein Übergangspremier. Jetzt, bei der Neuwahl, gilt ein neues Wahlrecht, das der stärksten Partei einige Bonussitze im Parlament gibt. Mitsotakis wird sein Amt also wohl bald wiederhaben.

Als der Wahlkämpfer am Wochenende über die Bootstragödie vor der griechischen Küste sprach, lobte er die Küstenwache. Deren Beamte seien "rund um die Uhr da draußen, um Leben zu retten und unsere Grenzen zu schützen". Seine Migrationspolitik, sagte Mitsotakis, sei "fair und strikt", die Kritik am Verhalten der Küstenwache dagegen "unfair".

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Griechische Journalisten und die BBC berichteten am Sonntag, dass sich das Boot mit Hunderten Menschen an Bord stundenlang kaum bewegt hatte. Der Motor war ausgefallen. Es war keineswegs auf Kurs nach Italien, wie die griechische Küstenwache behauptete. Überlebende erheben teils schwere Vorwürfe: Die Küstenwache habe das Boot erst zum Kentern gebracht, als sie versuchte, es abzuschleppen. Die Behörden streiten das ab; die Überlebenden kamen in ein geschlossenes Lager, wo sie nicht telefonieren dürfen.

Das griechische Vorgehen ist illegal, menschenverachtend ist es sowieso

Kyriakos Mitsotakis hat Erfahrung im Leugnen von Vorwürfen. Zum Beispiel dem, dass Griechenland vor seinen ägäischen Inseln immer wieder Geflüchtete aufgreift und kurz vor türkischem Hoheitsgebiet aussetzt. Erst im Mai brachte die New York Times einen Videobeweis für einen dieser Pushbacks, in dem Fall hatten die Menschen schon die Insel Lesbos erreicht. Die Griechen zwangen sie zurück auf ein Boot und brachten sie aufs Meer, wo die türkische Küstenwache sie rettete. Das griechische Vorgehen ist illegal, menschenverachtend ist es sowieso.

Sprechen Journalisten ihn auf die Pushbacks an, leugnet Mitsotakis. Seit Jahren. Dass er damit durchkommt, liegt an einer neuen Form des Populismus, seiner Version davon: ohne ausfallende Rhetorik, ohne Exzentrik, ohne Lautstärke. Mitsotakis gehört zur Familie der europäischen Konservativen, niemand zweifelt ihn dort an. In Interviews in internationalen Medien macht er in makellosem Englisch einen, genau: seriösen Eindruck.

Mitsotakis ist sicher kein Orbán, kein Trump. Er zeigt aber, wie erfolgreich sich in der Politik die Wahrheit umgehen lässt, solange man die Form wahrt. Dazu kommt, dass man anderswo in Europa froh ist über seinen harten Kurs in der Flüchtlingspolitik. Viele nehmen es nicht allzu genau mit Mitsotakis' Wahrheit, weil seine Politik zu passen scheint.

Was auch immer genau passiert ist an dem Abend, bevor das Boot sank: Klar ist, die Menschen nicht hätten sterben müssen. Die griechische Regierung trägt schon deswegen eine Mitschuld, weil sie ihre Küstenwache im Verborgenen operieren lässt. Diese muss unter Kyriakos Mitsotakis keine Rechenschaft darüber ablegen, was sie auf dem Meer tut oder unterlässt. Es ist eine Politik, in der die Wahrheit nur noch eine Möglichkeit ist.

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