Flüchtlingszahlen in Griechenland:Türkische Schlüsselrolle

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Sein Schiff sank auf offener See, er überlebte: ein Migrant in einem Aufnahmelager der griechischen Ortschaft Malakasa. (Foto: Stelios Misinas/Reuters)

Auf den griechischen Inseln kommen wieder deutlich mehr Bootsflüchtlinge an. Der Migrationsforscher Gerald Knaus fordert ein neues Abkommen zwischen der EU und der Türkei. Doch Präsident Erdoğan braucht schnelle Lösungen.

Von Raphael Geiger und Tobias Zick, Istanbul/München

Offenbar war die Katastrophe von Pylos dann doch so etwas wie ein kleiner Wendepunkt. 80 Kilometer vor der griechischen Hafenstadt sank im Juni ein Fischkutter voller Migranten, die auf dem Weg von der libyschen Küste nach Italien waren. Hunderte Menschen kamen ums Leben, und einige der 104 Überlebenden machen der griechischen Küstenwache schwere Vorwürfe: Sie habe das Kentern möglicherweise sogar mit verursacht - und dann erst viel zu spät mit der Rettung der im Wasser treibenden Menschen begonnen.

Die griechischen Behörden streiten die Vorwürfe routiniert ab. Doch innerhalb der EU war im Anschluss an die Katastrophe der Druck auf Athen gewachsen. Der Leiter der europäischen Grenzschutzagentur Frontex, Hans Leijtens, forderte Aufklärung über den wahren Hergang des Unglücks - und auch über Vorwürfe brutaler illegaler Pushbacks durch griechische Grenzbeamte, wie sie von Hilfsorganisationen und Aktivisten in den vergangenen Jahren hundertfach dokumentiert worden sind. Implizit drohte Leijtens den Griechen, Frontex könnte sich aus dem Land zurückziehen.

In Athen und im Rest Europas steigt die Nervosität

Ob es an derartigen Ermahnungen liegt oder an innerer Überzeugung in der griechischen Regierung, dass sich Brutalität und Rechtlosigkeit im Umgang mit schutzsuchenden Menschen nicht beliebig steigern lassen: "Nach Pylos", so schreibt es das gewöhnlich gut informierte griechische Investigativportal Insidestory.gr unter Berufung auf Recherchen bei Polizei und Küstenwache, "sind alle 'weicher' geworden". Den Eindruck bestätigen auch einige in der Region tätige Helfer und Aktivisten. Die Organisation Aegean Boat Report etwa berichtet, die Praxis der Pushbacks von den griechischen Inseln habe "plötzlich aufgehört". Das Zurückdrängen von Menschen auf hoher See gehe unterdessen weiter, wenn auch in vermindertem Ausmaß.

Zugleich steigt die Zahl der Menschen, die aus der Türkei auf den griechischen Ägäis-Inseln ankommen, in jüngster Zeit deutlich an; seit Mitte August sind es an manchen Tagen mehrere Hundert. Insgesamt, sagt Stella Nanou, Sprecherin des UN-Flüchtlingskommissariats (UNHCR) in Griechenland, sei die Situation noch "gut handhabbar". Der Anstieg bewege sich auf einem viel niedrigeren Niveau als 2015 und 2016, als täglich mehrere Tausend Menschen auf den Inseln ankamen. Trotzdem wächst in Athen und auch im Rest Europas die Nervosität. Mehrere griechische Aufnahmeeinrichtungen sind bereits jetzt nahezu voll.

Der Migrationsforscher Gerald Knaus mahnt deshalb, die EU müsse dringend zu einer neuen Einigung mit der Türkei finden. In der aktuellen Situation sieht Knaus, der das später gescheiterte EU-Türkei-Abkommen von 2016 mitentwickelt hatte, eine "Gefahr", aber auch eine "Riesenchance": Nachdem zwischen Athen und Ankara die Zeichen lange auf Konfrontation standen - auch wegen des ungelösten Streits um Erdgasreserven im Mittelmeer -, bemühen sich beide Seiten derzeit um versöhnlichere Töne. Die EU müsse dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan jetzt ein "attraktives" Angebot machen, fordert Knaus.

Ein faires Asylverfahren auf türkischem Boden?

Ein solches Angebot wäre etwa die Verpflichtung, jährlich eine bestimmte Zahl von syrischen Geflüchteten aus der Türkei aufzunehmen; außerdem ein Kontingent für legale Arbeitsmigration türkischer Staatsbürger in EU-Staaten sowie Visaerleichterungen. Im Gegenzug könnte die Türkei sich verpflichten, alle Migranten, die irregulär die Land- oder Seegrenze zu Griechenland überqueren, wieder aufzunehmen und ihnen auf ihrem Territorium ein faires Asylverfahren zu ermöglichen, unter Federführung des UNHCR. "Europa könnte so die Zahl der Ankommenden senken und zugleich zur Rechtsstaatlichkeit zurückkehren", sagt Knaus.

Doch wie groß ist die Bereitschaft in Ankara, sich auf einen neuen Deal mit der EU einzulassen? Die Tatsache, dass wieder mehr Menschen in Griechenland ankommen, hat ja auch mit der Situation auf der anderen Seite der Ägäis zu tun. Die Türkei hat sich für Geflüchtete zu einem zunehmend feindseligen Ort entwickelt, gerade für Syrer und Afghanen. Bis zu vier Millionen von ihnen leben derzeit noch in der Türkei. Aber die Zeiten, in denen sich die türkische Regierung für ihre humanitäre Hilfe feiern ließ, sind vorbei. Jetzt geht es darum, die Menschen loszuwerden, und das so schnell wie möglich.

Kyriakos Mitsotakis (li.) und Recep Tayyip Erdoğan am Rande des UN-Gipfels in New York. Der griechische Regierungschef will den türkischen Präsidenten bald wieder treffen. (Foto: Murat Cetinmuhurdar/Reuters)

Eine Million Syrer, hat Erdoğan versprochen, sollen in ihr Land zurückkehren. Freiwillig, wie es heißt. Der Präsident lässt im türkisch besetzten Idlib im Nordwesten Syriens ganze Städte für die Rückkehrer bauen. Geld dafür kommt auch aus Katar. Im Wahlkampf hatte Erdoğan damit auf die Opposition reagiert, die gleich alle Syrer abschieben wollte. Eine Forderung, die Erdoğan als "unislamisch" bezeichnete. Doch auch unter seiner Herrschaft ist klar, dass die Syrer in der Türkei keine Zukunft haben sollen. Schon jetzt können sie sich in den meisten Großstädten nicht mehr registrieren. Und in allen Bezirken, in denen der Anteil der Ausländer bei 25 Prozent oder höher liegt, gleich welcher Nationalität, stellen die Behörden keine Aufenthaltsgenehmigungen mehr aus.

Viele Türken und Türkinnen misstrauen den Geflüchteten

Die Klage, dass auch bestehende Aufenthaltstitel ohne Grund nicht mehr verlängert werden, hört man in der Türkei gerade ständig. Wer ohne türkischen Pass im Land lebt, tut das mit dem Risiko, entweder bald illegal da zu sein oder abgeschoben zu werden. Erdoğans Regierung weist gern auf die hohen Abschiebezahlen hin, selbst nach Afghanistan werden Menschen ausgeflogen, angeblich zu Tausenden. Im Volk kommt das gut an, weniges verbindet die Menschen in der Türkei so sehr wie ihr Misstrauen gegenüber den Geflüchteten - vor allem den Syrern und Afghanen. So geht etwa das Gerücht um, den Migranten gehe es besser als vielen türkischen Erdbebenopfern. Viele im Land glauben das gern.

Und Erdoğan ist längst im Wahlkampfmodus. Im kommenden Frühjahr stehen die wichtigen Kommunalwahlen an, bei denen der Präsident das Rathaus von Istanbul für seine AKP zurückerobern will. Gerade in Istanbul werden die Geflüchteten im Wahlkampf eine große Rolle spielen. Erdoğan geht es also in erster Linie darum, dass ihre Zahl spürbar sinkt. Sie sollen zurück in ihre Heimatländer. Falls sie sich aber stattdessen auf den Weg nach Europa machen, dürfte Erdoğan nichts dagegen haben.

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Es wäre nicht das erste Mal, dass der türkische Präsident mit den Menschen Politik macht, indem er sie in Richtung griechische Inseln ziehen lässt - bis ihm Europa ein Angebot unterbreitet. So war es schon im Winter 2015/16, also vor dem EU-Türkei-Deal. Anfang 2020 ließ Erdoğan sogar Tausende Geflüchtete in Bussen von Istanbul bis an die griechische Grenze bringen. Ähnlich wie seine Vetomacht beim Nato-Beitritt Schwedens betrachtet Erdoğan die Geflohenen als Instrument, von dem er gegenüber Europa Gebrauch gemacht, sobald er es nützlich findet.

Griechenlands Regierungschef Kyriakos Mitsotakis hat gerade angekündigt, dass er sich im Dezember mit Erdoğan in Thessaloniki treffen will. Die Zusammenarbeit mit der Türkei sei "unerlässlich", um die Zahl der an der EU-Außengrenze ankommenden Migranten zu reduzieren.

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