Gaza-Konflikt:Netanjahus Dilemma

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Israels Regierungschef könnte mit einer großen Militäroperation auf die Attacken radikaler Palästinenser antworten. Doch damit würde er die Austragung des Eurovision Song Contests in Tel Aviv gefährden.

Von Alexandra Föderl-Schmid, Aschkelon

Es kracht drei Mal so laut, dass alle unwillkürlich zusammenrücken und sich noch enger in den Hauseingang in der David-Remez-Straße in Aschkelon ducken. Die Zeit reicht nicht mehr, um in den Bunker zu laufen. Dann sind ein halbes Dutzend Explosionen zu hören und ein Einschlag. Weiße Kringel sind am blauen Himmel zu sehen - das Zeichen dafür, dass das israelische Raketenabwehrsystem Iron Dome (Eisenkuppel) mehrere Geschosse abgefangen hat.

Zwei Männer haben ihr Fahrzeug auf der anderen Straßenseite stehen gelassen und sind über den Grünstreifen in der Mitte Richtung Gebäude gelaufen; ein Busfahrer und seine vier Passagiere haben sich ebenfalls aus dem Fahrzeug in den Schutz der Hausmauern geflüchtet. Man drückt sich aneinander, die Frauen stellen sich hinter die Männer. Zuerst ist es ganz still. Als die Sirenen nach fünf Minuten zu heulen aufhören, beginnen alle durcheinanderzureden: "Warum wir?", fragt die russischstämmige Jüdin Swetlana David. "Das muss ein Ende haben", sagt Arye Ramon. Der Busfahrer reckt nur die Faust Richtung Himmel.

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Alle springen wieder in ihre Fahrzeuge, doch nach rund 300 Metern kommt der nächste Alarm. Wieder ein Hauseingang. Zwei Monteure lassen ihren Jeep stehen und sprinten unter das Vordach. Gemächlicher geht es nach drei Minuten zum Fahrzeug zurück. Als binnen sieben Minuten der nächste Raketenalarm auf dem Begin-Boulevard folgt, lassen die Fahrer ihre Autos selbst auf der Überholspur stehen und suchen Schutz hinter ihrem Fahrzeug auf jener Seite, die dem Gazastreifen abgewandt ist.

Drei Raketenalarme binnen fünfzehn Minuten gibt es am Sonntag gegen 13 Uhr. Eine Rakete trifft ein Fabrikgebäude in Aschkelon, drei Menschen werden verletzt, ein Mann stirbt später an seinen Verletzungen im Krankenhaus. Nach Angaben der Behörden handelt es sich um den 50-jährigen Beduinen Zaed al-Hamamda. Die zwei anderen sind am Sonntagnachmittag in einem kritischen Zustand. Ein weiterer wird in seinem weißen Kombi mitten auf der Straße in der Nähe von Yad Mordechai, das von Aschkelon zwölf Kilometer entfernt liegt, von einer Rakete tödlich getroffen.

Dikla Dayan hat große Angst, sich überhaupt noch auf die Straße zu begeben, und man versteht schnell, warum: Sie erzählt davon, wie in der Nacht zum Sonntag der Großvater ihrer Tochter in Aschkelon vom Schrapnell einer Rakete aus dem Gazastreifen tödlich getroffen worden ist. Das Projektil habe ein großes Loch in seinen Brustkorb gerissen. "Er hat versucht, andere Leute zu wecken, damit sie sich in Sicherheit bringen können", erzählt die 27-Jährige nun und streichelt im Garten den Mischlingshund Johnny, der sich sichtlich verängstigt auf den Boden drückt.

Der getötete Mosche Agadi, der einen Gemüseladen in Aschkelon betrieb, habe eine Zigarette im Freien geraucht, erzählt dessen Bruder Schmulik. Es war 2.45 Uhr in der Nacht zum Sonntag, als die Rakete einschlug. Der 58-Jährige sei mitten im Garten des Hauses getroffen worden, das im Süden von Aschkelon liegt. In der Erde ist jetzt ein Loch von etwas weniger als einem Meter Durchmesser zu sehen. Von der grauen Ziegelmauer zu den Nachbarn sind nur noch wenige Überreste zu sehen. Noch nicht reife Grapefruits liegen am Boden, mehrere Bäume wurden beschädigt.

Die Fassade des braunen, einstöckigen Hauses, in dem sich laut Dayan zum Zeitpunkt des Einschlags fünf der sieben Familienmitglieder aufhielten, ist mit Löchern übersät. Beim Nachbarn hängt die Wäsche noch an der Leine, voller Staub. Der Nachbar Peretz Mazarfi erinnert sich an einen "ganz lauten Knall". Auch sein Haus wurde durch ein Schrapnell beschädigt.

Auch am späten Sonntagnachmittag gehen die Raketenangriffe in den Gemeinden rund um den Gaza-Streifen unvermindert weiter. Seit Samstag um zehn Uhr feuern militante Palästinenser fast ununterbrochen Raketen auf israelische Gebiete. Bis zum Sonntagnachmittag sind es allein insgesamt etwa 700 Raketenangriffe. Nach Angaben von Armeesprecher Jonathan Conricus seien etwa 70 Prozent der Raketen auf offenem Feld gelandet. Der Großteil der restlichen Geschosse wurde von der Raketenabwehr abgefangen.

Die israelische Armee griff daraufhin mehr als 280 Ziele im Gazastreifen an. Unter anderem wurden ein grenzüberschreitender Tunnel bei Rafah sowie militärische Anlagen der im Gazastreifen regierenden radikalislamischen Hamas und des Islamischen Dschihad, der zweitgrößten Gruppe, attackiert. Sechzehn Palästinenser sollen am Sonntag getötet worden sein. ¶

Abed Schokry, ein Hochschullehrer in Gaza und Vater von vier Kindern, beschreibt die Lage in einer Whatsapp-Nachricht so: "Wir haben die Nacht gut überstanden. Aber es war keine ruhige Nacht, wir haben kaum geschlafen. Die Lage ist sehr ernst, und eine Deeskalation ist nicht in Sicht."

Islamischer Dschihad als treibende Kraft

Nach Einschätzung der israelischen Armee steckt eine koordinierte Aktion von Hamas und Islamischem Dschihad hinter diesem massiven Raketenhagel. Es ist der intensivste Beschuss seit dem vergangenen November. Vor allem der Islamische Dschihad soll über den schleppenden Fortgang der Verhandlungen über einen längerfristigen Waffenstillstand unter ägyptischer Vermittlung verärgert sein. Laut palästinensischen Angaben setze Israel seine Zusagen nicht um, zum Beispiel jene, die Blockade von Gütern aufzuheben. Der Islamische Dschihad fühle sich deshalb nicht mehr an die von der Hamas ausgerufene Zurückhaltung gebunden, die Israel als Zugeständnis gefordert hatte. Zuletzt hatte es kurz vor den Wahlen in Israel am 9. April eine militärische Konfrontation gegeben, seither hatte relative Ruhe geherrscht.

Nach Angaben der israelischen Armee versuche der Islamische Dschihad seit etwa zwei Wochen, mit Aktionen die Verhandlungen zu sabotieren. Dazu gehört nach Ansicht von Militärexperten ein Angriff auf zwei israelische Soldaten an der Grenze am Freitag, die durch Schüsse verletzt wurden. Daraufhin griff die israelische Armee im Gazastreifen an und tötete vier Palästinenser, darunter Kämpfer der Kassam-Brigaden, des militärischen Arms der Hamas. Daraufhin soll die Hamas Vergeltung geschworen und sich mit dem Islamischen Dschihad zu der gemeinsamen Angriffswelle entschlossen haben.

Seit Samstag war Raketenalarm nicht nur in den Gebieten rund um den Gazastreifen zu hören, sondern auch im Zentralraum, etwa in der Stadt Rechovot oder in Bet Schemesch. Die militanten Palästinenser wollen offensichtlich die Zeit vor dem Eurovision Song Contest in zwei Wochen nutzen, um Druck auf Israel auszuüben. Die israelische Zeitung Haaretz zitierte einen Hamas-Funktionär mit den Worten: "Es kann nicht sein, dass man singt und sich freut, während wir leiden." Die Sicherheitsvorkehrungen vor dem Wettbewerb, der zwischen 14. und 18. Mai in Tel Aviv ausgetragen wird, wurden massiv verstärkt. Besonders rund um Tel Aviv wurden Raketenabwehrsysteme aufgebaut.

Militante Palästinenser wollen Israels Premierminister Benjamin Netanjahu in eine Zwickmühle bringen. Denn eine massive Militäroperation würde die Austragung des prestigeträchtigen Wettbewerbs gefährden. Ein Militärexperte vertrat die Einschätzung, dass eine Ausweitung der Angriffe auf Tel Aviv zu befürchten sei. Netanjahu steckt auch mitten in Verhandlungen zur Bildung einer neuen Koalition mit sechs Parteien, auch ist kommende Woche, am 9. Mai, der Unabhängigkeitstag, der 71. Jahrestag der Staatsgründung.

Auf die Frage, was Netanjahu nun machen solle, sagt Dikla Dayan in Aschkelon nur: "Angreifen." Ein neuer Krieg? Sie nickt.

© SZ vom 06.05.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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