Man hätte meinen können, es würde alles gut werden für Emmanuel Macron, nachdem Anfang der Woche zwei Misstrauensanträge gegen seine Regierung im Parlament scheiterten. Die umstrittene Rentenreform des Präsidenten, die Frankreich schon seit Wochen beschäftigt, gilt damit als angenommen.
Entspannt hat sich die Stimmung im Land aber nicht. Ganz im Gegenteil. Denn das Ergebnis war wesentlich knapper als erwartet. Gerade mal neun Stimmen fehlten, um das Kabinett zu stürzen. "Die Regierung ist trotzdem tot", und: "Die Premierministerin muss trotzdem gehen", hieß es kurz nach der Abstimmung aus der Opposition. Wenige Stunden später kam es in mehreren französischen Städten zu spontanen Demos und Ausschreitungen, in Paris nahm die Polizei mehr als 200 Menschen fest. Schon seit Tagen brennen in der französischen Hauptstadt abends die vom Streik übervollen Mülltonnen. Die Proteste gegen die Rentenreform sind so heftig wie lange nicht mehr.
Der Dienstag war für den französischen Präsidenten der Tag der Krisensitzungen. Am Vormittag hatte er einen Termin mit der Premierministerin Élisabeth Borne, am Mittag traf Macron die Parlamentspräsidentin und den Chef des Senats zum Essen. Am Abend lud er seine Abgeordneten in den Élysée-Palast.
Borne als "Sündenbock"
Auch wenn die Premierministerin und ihr Kabinett durch das gescheiterte Misstrauensvotum bestätigt wurden, mehren sich die Rücktrittsforderungen. Schon seit Tagen wird über die Zukunft von Premierministerin Borne spekuliert. Obwohl die Rentenreform als das größte und heikelste Projekt von Präsident Emmanuel Macron galt, war seine Premierministerin maßgeblich für die Durchsetzung verantwortlich.
So war sie diejenige, die dafür plädierte, das gesetzliche Renteneintrittsalter nur auf 64 und nicht wie im Wahlkampf vertreten auf 65 Jahre anzuheben. Sie war es, die bis zuletzt die Suche nach einem Kompromiss betonte, die nun gescheitert ist. Ehe Borne in der vergangenen Woche entschied, die Reform per Verfassungsklausel durchs Parlament zu drücken, soll sie im kleinen Kreis selbst gesagt haben, dass sie dann als "Sündenbock" dienen müsse.
Dass Macron seine Premierministerin oder andere Kabinettsmitglieder schon in den kommenden Tagen austauscht, gilt als wenig wahrscheinlich. Zu sehr könnte das nach einem Zugeständnis aussehen. Hinzu kommt: In Frankreich gab es vor Borne erst eine weibliche Premierministerin. Ihre Vorgängerin Édith Cresson war in den Neunzigerjahren gerade einmal elf Monate im Amt. Würde Borne nun zurücktreten, würde sie das noch unterbieten.
Theoretisch könnte Macron auch jederzeit die Nationalversammlung auflösen und neue Parlamentswahlen ausrufen. Doch das würde ihm politisch voraussichtlich kaum nutzen. Französischen Medien zufolge schloss Macron bei einer der Krisensitzungen am Mittwoch aus, in absehbarer Zeit die Regierung umzubilden oder das Parlament aufzulösen.
Künftig eine Minderheitsregierung?
In jedem Fall dürfte das Regieren für Emmanuel Macron in den kommenden Monaten schwierig werden. Weil seine Regierung in der Nationalversammlung nur über eine relative Mehrheit verfügt, ist sie für jedes Gesetz auf Stimmen aus der Opposition angewiesen. Und die werden nach dem Rentendebakel nicht so leicht zu gewinnen sein. "Wenn wir jetzt keine Lektionen daraus ziehen, werden wir von einer Regierung mit relativer Mehrheit zu einer Minderheitsregierung werden", sagte der Generalsekretär von Macrons Partei, Stéphane Séjourné, am Montag auf dem Sender BFM.
Am Mittwoch will sich Emmanuel Macron selbst in einem Fernsehinterview zur Rentenreform äußern. In den vergangenen Wochen war der französische Präsident innenpolitisch wenig präsent gewesen. Immer wieder wurde er dafür kritisiert, die Verantwortung für die Rentenreform auf seine Premierministerin und ihre Minister abzuschieben. Das letzte Mal, dass Macron ausführlich im Fernsehen über die Rentenreform sprach, war bei seiner Neujahrsrede.
Zwei Oppositionsfraktionen haben bereits angekündigt, das französische Verfassungsgericht einzuschalten, um die Rechtmäßigkeit der Rentenreform zu prüfen. Anfang der Woche reichten außerdem mehr als 250 Abgeordnete und Senatoren einen Antrag für ein Referendum zur Rentenreform ein. Zu einem Volksentscheid käme es aber erst, wenn ein Zehntel der Wahlberechtigten, also fast fünf Millionen Französinnen und Franzosen, das Vorhaben unterstützen würden. Das gilt als unwahrscheinlich.
Für Donnerstag haben die großen französischen Gewerkschaften zum neunten Streik gegen die Rentenreform aufgerufen. Das Scheitern des Misstrauensvotums ändere nichts an der sozialen Bewegung, hieß es in einer Mitteilung der radikalen Gewerkschaft CGT.