Migrationspolitik:Mehr Flüchtlinge als gedacht

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Migranten stehen Schlange vor der Erstaufnahme-Einrichtung des Landes Brandenburg in Eisenhüttenstadt. (Foto: Hannes P Albert/DPA)

In diesem Jahr könnten mehr als 350 000 Migranten nach Deutschland kommen, erklärt das zuständige Bundesamt. Die Situation in den Aufnahmeeinrichtungen nennt es "dramatisch".

Von Roland Preuß und Robert Roßmann, Berlin

Die Zahl der Asylbewerber in Deutschland ist offenbar höher als bisher bekannt. Das geht aus einem Brief des Präsidenten des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, Hans-Eckhard Sommer, hervor, in dem der Präsident auf Registrierungsrückstände hinweist. In dem Brief an Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD), der der Süddeutschen Zeitung vorliegt, schreibt Sommer, es habe bereits im Jahr 2022 einen "massiven Anstieg" der Zahl der Asylsuchenden gegeben, der die Kapazität seiner Behörde überstiegen habe. Insgesamt seien im vergangenen Jahr 244 000 Asylanträge gestellt worden, darunter 218 000 Erstanträge.

In der ersten Hälfte des Jahres 2023 seien die Zahlen zwar zurückgegangen. Von August an sei es dann aber wieder zu einem Anstieg gekommen, der den "des Vorjahres noch einmal deutlich überstieg", schreibt Sommer. Es sei "der höchste Zugang seit 2015/16". Jede Woche würden mittlerweile "zwischen 10 000 und 11 000 Asylgesuche registriert", im September seien es 40 000 Asylgesuche gewesen, im Oktober 43 500. Aber selbst diese Zahlen würden den tatsächlichen Asylzugang nicht widerspiegeln, "da die Länder mittlerweile erhebliche Registrierungsrückstände haben, sodass wir es tatsächlich im September mit rund 50 000 und im Oktober mit rund 55 000 Zugängen zu tun hatten".

Die Flüchtlinge aus der Ukraine sind in den Zahlen noch gar nicht enthalten

Von Asylgesuchen spricht man, wenn Menschen, beispielsweise an der Grenze, sagen, dass sie Asyl beantragen wollen. Nicht alle stellen danach einen förmlichen Asylantrag, erfahrungsgemäß aber die große Mehrheit. Mit Stand Ende Oktober beträgt die Zahl der Asylgesuche im Jahr 2023 bereits 280 000, die Zahl der Asylanträge 287 000, darunter 267 000 Erstanträge. Hier kommt offenbar der Zeitverzug zwischen Asylgesuch und Asylantrag zum Tragen. Bis zum Ende des Jahres müsse "mit einem Asylzugang von 350 000 oder sogar darüber hinaus gerechnet werden", schreibt Sommer.

Nach der Ministerpräsidentenkonferenz mit dem Bundeskanzler am 6. November hatte es im gemeinsamen Beschluss noch geheißen, es sei "aktuell davon auszugehen, dass im Gesamtjahr 2023 mehr als 300 000 Menschen aus Drittstaaten Asyl-Erstanträge in Deutschland stellen werden". In diesen Zahlen sind die vielen Flüchtlinge aus der Ukraine noch gar nicht enthalten.

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Die derzeitige Situation in den Aufnahmeeinrichtungen, in denen die Außenstellen des Bundesamts mit den jeweiligen Landesbehörden zusammenarbeiten, könne "man nur als dramatisch bezeichnen", schreibt Sommer in seinem Brief an die Innenministerin. Trotz enger Abstimmung mit den Landesbehörden und "ganz überwiegend gutem Willen" werde es "immer schwieriger, die aufeinander abgestimmten Regelprozesse aufrechtzuerhalten".

Migranten müssen schnell auf die Kommunen verteilt werden

In einer Reihe von Bundesländern seien "die Aufnahmekapazitäten mittlerweile derart ausgelastet, dass bereits binnen weniger Tage nach Erstregistrierung und Gesundheitsuntersuchung durch das Land eine Verteilung in nachgeordnete Unterkünfte oder in die Kommunen erfolgen" müsse, ohne dass seine Behörde die Chance habe, den Asylantrag in der Aufnahmeeinrichtung entgegenzunehmen oder eine Anhörung durchzuführen, schreibt Sommer. "Vor dem Hintergrund der öffentlichen und politischen Diskussion der letzten Monate" sei diese Situation äußerst kritisch. Die Verteilung auf die Kommunen erschwert schnelle Asylverfahren. Genau dies ist jedoch erklärtes politisches Ziel, wie gerade wieder auf dem Bund-Länder-Treffen bekräftigt wurde.

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Der Präsident des Bundesamtes ist der Auffassung, dass die im Haushaltsentwurf für das Jahr 2024 vorgesehenen Mittel und Stellen für seine Behörde "in keiner Weise ausreichen, den auch im nächsten Jahr voraussichtlich hohen Asylzugang zu bewältigen, geschweige denn einen Abbau der anhängigen Verfahren zu ermöglichen". Er bittet die Bundesinnenministerin deshalb um Unterstützung. Sommer will unter anderem mehr Personal und mehr Geld für IT-Dienstleistungen.

CDU-Chef Friedrich Merz sagte am Dienstag, der Brief Sommers zeige, dass die Zahl der Asylbewerber im September und Oktober deutlich höher sei, "als wir ursprünglich alle gemeinsam angenommen haben". Die Dringlichkeit, in der Migrationspolitik zu schnellen Entscheidungen zu kommen, habe sich damit erhöht. CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt sagte, die Zahlen des Bundesamtes würden zeigen, dass man "nach wie vor in einer Migrationskrise stecke" und dass die Maßnahmen, die die Ampelkoalition bisher ergreifen wolle, nicht ausreichen würden.

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