In einem Sessel ruhend, den Kopf fast demütig zur Seite geneigt, im Gesicht ein friedliches Lächeln. Viele Fotos zeigen Fethullah Gülen in dieser Pose, er wirkt wie ein frommer Gelehrter. Oder auch ein gütiger Großvater. Und doch gilt Gülen vielen in der Türkei als Staatsfeind Nummer eins. Recep Tayyip Erdoğan sieht ihn als Drahtzieher hinter dem misslungenen Militärputsch. Gülen feuert zurück, der türkische Präsident könnte selbst den Putsch inszeniert haben.
Der islamische Prediger Fethullah Gülen wohnt im selbstgewählten Exil, im US-amerikanischen Pennsylvania. Von dort unterhält er sein einflussreiches Netzwerk aus mehr als 1 500 Schulen weltweit, schickt seine Predigten per Videostream in die ganze Welt. Von dort soll er auch seinen Machtkampf gegen Erdoğan führen. Dem Autor und Gülen-Biograph Hakan Yavuz zufolge gibt es in der Gülen-Bewegung bis zu zwei Millionen Aktivisten. Der Experte vergleicht sie mit dem rechtskatholischen Geheimbund "Opus Dei", da sie ähnlich abgeschottet werken.
"Ist möglich, dass der Putsch inszeniert war"
Steht Gülen aber auch hinter dem Putschversuch des Militärs? Erdoğan ist überzeugt davon und benutzt damit ein in den vergangenen Jahren etabliertes und von ihm umfassend eingesetztes Feindbild. Von den USA fordert er eine Auslieferung des Predigers und schickt am Samstag folgende Nachricht in Richtung Gülen: "Du hast dich bereits des Verrats schuldig gemacht. Wenn du es wagst, komm zurück in dein Heimatland." US-Außenminister John Kerry sagt, es gebe noch keinen offiziellen Auslieferungsantrag der Türkei. Sollte dieser aber kommen, werde man ihn umfassend prüfen.
Gülen selbst weist alle Vorwürfe zurück. "Ich glaube nicht, dass die Welt die Anschuldigungen gegen mich ernst nimmt", sagt er Financial Times und New York Times. Durch militärische Intervention könne keine Demokratie erreicht werden. "Es ist hingegen möglich, dass der Putsch inszeniert war und für weitere Anschuldigungen genutzt wird." Dann schießt Gülen noch deutlich in Richtung Erdoğan: Er und seine Partei erinnerten Gülen an Hitlers SS.
Doch wer ist dieser Mann, den Erdoğan so offensichtlich fürchtet?
Gülens Anhänger sitzen in Unternehmen und Politik
Um die Figur Gülen zu verstehen, muss man in sein Heimatland zurückkehren, genauer gesagt nach Ostanatolien. Dort kam er als Sohn des Dorfimams auf die Welt - je nach Quelle im Jahr 1941 oder 1938. Das ist nicht nebensächlich: 1938 starb Kemal Atatürk, der "Vater der Türken". Er gründete die Republik Türkei und verdrängte den Islam aus dem öffentlichen und politischen Leben. Atatürks Tod und Gülens Geburt im selben Jahr - für seine Anhänger ein klares Signal, dass die Ära des einen endete und die des anderen begann. Und damit auch der Islam wieder seine Kraft über die türkische Gesellschaft entfaltete.
Gülen tritt für eine Neuinterpretation des Korans ein, reiste ab den 60er Jahren als Wanderprediger durch die Türkei. Er ruft zu Dialog und Frieden auf. Manchmal bricht er während seiner Predigten minutenlang in Tränen aus - sein Markenzeichen.
Für seine Anhänger wurde er schnell zu einer Art moralischem Übervater. Gülen hat Einfluss. Viel Einfluss. Etwa zehn bis 15 Prozent der türkischen Bevölkerung unterstützen ihn der US-Soziologin Helen Rose Ebaugh zufolge. Seine Anhänger sitzen in Unternehmen, in Ministerien, in der Justiz und Polizei. Um seinen Einfluss auch auf kommende Generationen auszudehnen, hat sich Gülen auf eine Tätigkeit besonders spezialisiert: das Errichten von Bildungseinrichtungen.
"Baut Schulen statt Moscheen" ist das Motto seiner Bewegung. Überall auf der Welt stehen seine Schulen, auch in Deutschland soll es etwa 20 geben, dazu zirka 300 Nachhilfe-Institute. Er will eine islamische Elite heranbilden, die in verantwortungsvollen Positionen ihren Einfluss geltend macht. Einige Stimmen meinen, seine Bewegung repräsentiere eine modernistische Strömung im Islam. Kritiker sehen hingegen eine totalitäre Orientierung.
Erdoğan und Gülen waren einmal Weggefährten
Lange einte Gülen und Erdoğan die gemeinsame Vision einer islamisch geprägten Gesellschaft. Einen weiten Teil ihres Weges an die Macht gingen die beiden vereint. Gülen brauchte die konservative AKP, um seine Leute ganz oben zu platzieren, Erdoğan hingegen profitierte von den Personalreserven des Imams.
Doch irgendwann standen sie sich gegenseitig im Weg, Erdoğan strebte immer autoritärer nach Macht - 2013 kam es zum endgültigen Bruch. Er begann seine Partei, Justiz und Armee, von Menschen zu "säubern", die er nicht als loyal empfand. Viele Gülen-Leute waren unter ihnen. Er ließ gegen die Bewegung wegen Bildung einer terroristischen Vereinigung ermitteln, bewilligte ein Gesetz, das ihre Schulen verbieten soll. Eine offene Kriegserklärung.
Als 2014 gegen einige Minister wegen Korruptionsvorwürfen ermittelt wurde, bezeichnete Erdoğan dies als Rachefeldzug Gülens. Immer wieder wurde sein Name genannt, wenn er sich und seine Macht bedroht sah. Die Gezi-Proteste vermutete er aus dem Ausland gesteuert. Auch die auflagenstärkste Zeitung des Landes soll von der Gülen-Bewegung gesteuert sein. Erdoğan machte das Blatt Zaman im März mundtot und stellte sie unter staatliche Aufsicht. Seither gilt die Bewegung als geschwächt. Wie viele Anhänger sich noch in den Reihen von Sicherheits- und Justizapparat befinden, ist unklar.
Dass Gülen tatsächlich kontinuierlich den Staat unterwandern möchte, dafür spricht vor allem ein Video aus dem Jahr 1999, in dem der Prediger seine Anhänger dazu aufforderte. "Die Anwesenheit unserer Schüler in der Justizverwaltung und dem übrigen Staatsapparat ist der Garant für unsere Zukunft", hieß es darin. "Ihr müsst, ohne aufzufallen und ohne auf euch aufmerksam zu machen, an die Schaltstellen der Macht gelangen."
Mehrmals verhaftet
Als Gülen noch in der Türkei lebte, wurde er mehrmals verhaftet. In die USA ging er in den 90er Jahren vermutlich aus Angst vor Strafverfolgung. Offiziell wohnt er aufgrund einer Krankheit dort - in einem ländlichen Refugium, das ihm die Stiftung eines nahestehenden Unternehmers errichtet hat. Geographisch ist er also weit weg von der Türkei - und trotzdem tief vernetzt.
Der Konflikt mit Gülen ängstigt den türkischen Präsidenten wohl auch deshalb so sehr, weil es kein Angriff von außen ist. Es ist eine Bedrohung aus dem Innersten des konservativen Lagers. Durch Menschen, die die AKP am besten kennen, weil sie ein Teil von ihr sind oder waren. Nun traut er ihnen sogar einen Putsch zu. Auch wenn es keine Beweise gibt, Erdoğan nutzt die Vorwürfe für Altbekanntes: Er entfernt Gegner und Kritiker aus dem Staatsapparat.