Unruhen:Putschversuch in der Türkei: Erdoğans Freunde, Erdoğans Feinde

Wer steckt hinter dem Putsch in der Türkei, welche Rolle spielen das Militär, die Opposition und die Gülen-Bewegung? Ein Überblick über die wichtigsten Akteure in dem gespaltenen Land.

Von Luisa Seeling

Bei einem Putschversuch durch Teile des Militärs sind in der Nacht zum Samstag mehr als 260 Menschen in der Türkei getötet worden. Nach heftigen Gefechten erklärte die Regierung den Putsch für beendet und drohte den Putschisten mit Vergeltung.

Das Militär

Als am späten Freitagabend eine Gruppe innerhalb des türkischen Militärs im Staatsfernsehen erklärte, die Armee habe die Macht übernommen, brach Verwirrung aus - denn eigentlich galt die Gegnerschaft zwischen Regierung und Militär als beendet.

Bis vor ein paar Jahren war die Armee Hüterin der säkularen Staatsordnung gewesen. Entsprechend misstrauisch beäugten die Generäle den Aufstieg der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP. 2007 gab es schon einmal eine Putsch-Drohung: Der damalige Regierungschef Recep Tayyip Erdoğan wollte seinen Weggefährten Abdullah Gül zum Staatspräsidenten machen. Das Militär sprach sich dagegen aus und forderte, die Kandidatur Güls zurückzunehmen. Nach Massenprotesten und Neuwahlen setzte sich Erdoğan durch - Gül wurde Präsident. Kurz darauf wurde die Armee durch die sogenannten Ergenekon- und Sledgehammer-Prozesse geschwächt - Gerichtsverfahren mit Hunderten Angeklagten, die allesamt aus dem kemalistischen Lager stammten, darunter viele hochrangige Offiziere, denen Putschabsichten unterstellt wurden. Beides, die Prozesse und die gescheiterte Putsch-Drohung, galten als endgültige Entmachtung des türkischen Militärs durch die AKP-Regierung.

Dreimal schon übernahm in der Türkei das Militär die Macht - 1960, 1971 und 1980 -, Putsche haben im Land eine gewisse Tradition. Jedes Mal begründete die Armee ihr Eingreifen damit, dass die Regierung die öffentliche Ordnung nicht sichern könne; jedes Mal folgte eine Welle der Repression. Vor allem nach dem Putsch 1980 wurden Abertausende Bürger inhaftiert und angeklagt, Dutzende Todesurteile vollstreckt. Ein vierter Eingriff ist als soft coup in die Geschichte eingegangen: 1997 reichte eine Drohung des Militärs, um die Regierung zum Rücktritt zu zwingen. Auch diesmal haben die Putschisten ihr Vorgehen damit begründet, "die verfassungsmäßige Ordnung, die Demokratie, die Menschenrechte und die Freiheiten" im Land wiederherstellen zu wollen.

Das hat viele überrascht - denn eigentlich schienen sich Regierung und Armee zuletzt miteinander arrangiert zu haben. Offenbar ist das Militär gespalten - in einen regierungstreuen Teil und eine Gruppe, die sich zum Widerstand entschlossen hat. Die oberste Armeeführung war an der Aktion offenbar nicht beteiligt; die Putschisten nahmen laut Medienberichten den Generalstabschef Hulusi Akar als Geisel, andere hochrangige Militärs erklärten, dass sie den Putsch nicht unterstützten. Andererseits können die Putschisten-Einheiten nicht ganz klein gewesen sein, zu massiv waren das Aufgebot und zu aufwendig die Koordination. Nach offiziellen Angaben wurden inzwischen mehr als 2800 Militärangehörige festgenommen, es seien vor allem Offiziere der Luftwaffe, der Militärpolizei und der Panzerverbände am Putschversuch beteiligt gewesen.

Spekuliert wird von einigen, dass die Putschisten sich zum Eingreifen gezwungen sahen, weil es kaum mehr eine ernstzunehmende kemalistische Opposition gibt, die Erdoğans Machthunger entgegentreten könnte. Zuletzt hatte es immer wieder Anzeichen dafür gegeben, dass die AKP an den säkularen Grundfesten der Republik rütteln will - das dürfte die kemalistisch geprägte Armee alarmiert haben. Auch der Krieg der Regierung gegen die Kurden im Südosten, die verfehlte Syrien-Politik und das laxe Vorgehen gegen die islamistischen Kämpfer des IS dürfte den Generälen gegen den Strich gegangen sein.

Die Regierung

Die Regierung selbst verbreitet eine andere Erklärung für die Geschehnisse: Sie beschuldigt die sogenannte Gülen-Bewegung, hinter dem Putsch-Versuch zu stecken. Erdoğan, der noch in der Nacht seinen Urlaub im Mittelmeerort Marmaris abbrach und nach Istanbul zurückkehrte, drohte, die Putschisten würden einen "hohen Preis für diesen Verrat" zahlen. Er sprach von einem "Aufstand einer Minderheit in der Armee" und rief seine Anhänger zu Gegendemonstrationen auf.

Nicht wenige glauben nun, die Regierung könnte den Putsch inszeniert haben, um ihre Macht zu festigen. Seit er 2014 ins Präsidentenamt gewählt wurde, ist es Erdoğans wichtigstes politisches Ziel, die Türkei in ein Präsidialsystem zu verwandeln, also die Befugnisse des Präsidenten per Verfassungsänderung massiv auszuweiten. Bisher scheiterte das an den Machtverhältnissen im Parlament - für eine Verfassungsänderung bräuchte Erdoğan eine Zweidrittelmehrheit, die seine AKP nicht hat, und die Oppositionsparteien unterstützen seine Pläne nicht.

Mit einem vereitelten Putsch, so dieser Erklärungsansatz, könnte sich Erdoğan als starker Mann präsentieren und die Bevölkerung und sogar Teile der Opposition auf seine Seite ziehen. Dagegen spricht allerdings, dass Erdoğan in der Nacht auf Samstag keineswegs eine gute Figur machte. Sein im Fernsehen übertragener Auftritt per Videotelefonie und sein Aufruf, die Bevölkerung solle für ihn auf die Straße gehen, trug nicht dazu bei, die Menschen zu beruhigen.

Außer Frage steht, dass der Präsident den Putsch-Versuch politisch nutzen wird. Am Samstagmorgen erklärte er, die Türkei werde nicht vom Militär regiert; er kündigte außerdem an, das Militär "vollständig zu säubern". Auch der kommissarisch amtierende Generalstabschef Ümit Dündar sagte am Samstag, die Streitkräfte seien entschlossen, Mitglieder einer "parallelen Struktur" zu entfernen - damit ist das Gülen-Netzwerk gemeint.

In der Vergangenheit hat die Regierung immer wieder Oppositionelle, Gegner oder kritische Medien mit der Begründung kaltgestellt, sie betrieben Terrorpropaganda oder planten einen Putsch gegen die Regierung. Die Vorwürfe waren oft haltlos; nun aber haben die Putschisten Erdoğan frische Argumente für eine harte Hand geliefert.

Die Gülen-Bewegung

Ob die Gülen-Bewegung irgendetwas mit dem Putsch zu tun hat, ist zur Stunde völlig ungeklärt. Fethullah Gülen, der seit 1999 im freiwilligen Exil in den USA lebt, wies den Putsch-Vorwurf Erdoğans umgehend zurück. Der New York Times sagte er: "Ich verurteile den versuchten Militärputsch aufs Schärfste. Eine Regierung sollte durch freie und faire Wahlen an die Macht kommen, nicht durch Gewalt."

Präsident Erdoğan und Gülen waren in den Anfangsjahren der AKP-Regierung Verbündete gegen das kemalistische Establishment. Doch die Allianz bröckelte, und Ende 2013 kam es zum Bruch. Damals kam es zu Razzien und Festnahmen im Zusammenhang mit Korruption, auch Regierungsmitglieder gerieten ins Visier der Ermittler. Die ermittelnden Staatsanwälte galten als Gülenisten, weshalb Erdoğan das Netzwerk zur Terrororganisation erklären und seine Anhänger verfolgen ließ. Tausende tatsächliche oder vermeintliche Gülen-Anhänger wurden seither aus dem Polizei- und dem Justizapparat entfernt, Gülen-nahe Medienhäuser unter staatliche Aufsicht gestellt. Die Türkei fordert Gülens Auslieferung.

Die Bewegung, die in der Türkei mehrere Millionen Anhänger haben soll, gilt seither als stark geschwächt. Wie viele Anhänger sich wirklich noch in den Reihen von Sicherheits- und Justizapparat befinden, ist unklar.

Der 75-jährige Gülen steht an der Spitze einer in 140 Ländern präsenten Gemeinschaft von bis zu 8 Millionen meist türkischen Anhängern. Bis in die Achtzigerjahre wirkte Gülen als Imam in der Türkei. Mit seinen Predigten und Büchern über den Islam begeisterte er viele Gläubige. Seine Hizmet-Bewegung setzt vor allem auf Bildung - und auf den Marsch der Anhänger durch die Institutionen. Die Bewegung ist umstritten; in den USA gilt Gülen vielen als Vertreter eines moderaten, aufgeklärten Islams. In Deutschland, wo auch viele Gülenisten leben, gibt es viele Kritiker, die dem Netzwerk verfassungsfeindliche und islamistische Umtriebe vorwerfen.

Die Opposition und das Volk

Die türkische Bevölkerung bekam in der Nacht auf Samstag widersprüchliche Signale: Die Putschisten hatten am Abend erklärt, die Macht übernommen zu haben, das Kriegsrecht ausgerufen und eine Ausgangssperre verhängt. Der Präsident wiederum, der sich per Facetime und Twitter meldete, forderte die Menschen auf, für die Regierung auf die Straße zu gehen. Auch später, als der Putsch-Versuch weitgehend niedergeschlagen war, bat er die Menschen, auf der Straße zu bleiben; es müsse mit einem "Wiederaufflammen" des Aufstands gerechnet werden.

In der Nacht ertönten aus zahlreichen Moscheen in Istanbul die Rufe von Muezzinen, mehr als zwei Stunden vor dem normalen Morgengebet. Im Netz kursieren Videos von Muezzinen, die ihre jeweiligen Gemeinden dazu aufrufen, auf die Straße zu gehen.

Tausende folgten in der Nacht diesen Aufrufen, in den größeren Städten des Landes gab es Demonstrationen. Die Bevölkerung habe sich als "mündig und mutig" erwiesen, lobte der französische Außenminister am Samstag. Doch viele bezahlten einen Preis: Neben den nach offiziellen Angaben 104 getöteten Putschisten kamen 161 Zivilisten und Sicherheitskräfte zu Tode (Stand Samstagmittag). Außerdem gab es mehr als 1440 Verletzte.

Eine breite Unterstützung für die Putschisten war in der Nacht hingegen nicht auszumachen. Die Menschen, so scheint es, wollen keine Militärregierung - viele haben noch die traumatische Erfahrung von 1980 im Kopf, sie fürchten sich vor Chaos und Repression nach einer Machtübernahme der Armee. Selbst eingefleischte Gegner der Regierung sprachen sich in den sozialen Netzwerken dagegen aus, Erdoğan auf diese Weise loszuwerden. Alle drei Oppositionsparteien verurteilten den Putsch-Versuch.

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