Sperrklausel bei Europawahl:Kleinparteien werfen Regierung Machtmissbrauch vor

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Im Europaparlament sitzen derzeit 705 Abgeordnete - viele vertreten Kleinparteien. (Foto: Frederick Florin/AFP)

Piratenpartei, ÖDP, Volt und "Die Partei" kritisieren, dass die Bundesregierung die Zwei-Prozent-Hürde bei der Europawahl einführen will. Millionen an Stimmen würden so "vernichtet".

Von Robert Roßmann, Berlin

Es ist eine ungewöhnliche Runde, die sich an diesem Montag in Raum 4.09 des Europäischen Hauses in Berlin zusammengefunden hat. Das Zimmer ist ganz am Ende eines dunklen Flures, direkt neben den Toiletten. Die Technik in dem Raum funktioniert nicht richtig. Man kann sich dort leicht in eine Ecke abgeschoben fühlen. Insofern passt der Ort ganz gut zu dem, um was es hier gehen soll: Deutschlands Kleinparteien sind der Ansicht, dass die Ampelkoalition sie aus dem Europaparlament drängen will.

Piratenpartei, ÖDP, Volt und Die Partei haben deshalb gemeinsam zum Gespräch geladen. Normalerweise sind sie politische Konkurrenten - doch jetzt hat sie die Empörung über die Bundesregierung vereint.

Die Parteien beklagen das "Ignorieren" des Wählerwillens

Die Ampelregierung wolle "den Wählerwillen absichtlich ignorieren, nur um sich Stimmen einzuverleiben - das ist höchst undemokratisch", klagt die ÖDP-Europaabgeordnete Manuela Ripa. "Die antidemokratische Machtpolitik der Ampel schockiert mich", sagt der Volt-Abgeordnete Damian Boeselager. Martin Sonneborn, er sitzt für Die Partei in Straßburg, sagt, er sorge sich um die Demokratie im Europäischen Parlament. Und Anne Herpertz, die Vorsitzende der Piratenpartei, kritisiert, dass "mehrere Millionen an Stimmen vernichtet" werden sollen. Drastischer kann man eine Regierung kaum verurteilen.

Bei der letzten Europawahl ist den vier Kleinparteien der Einzug ins Parlament gelungen, genauso wie der Tierschutzpartei, den Freien Wählern und der Familienpartei. Doch jetzt soll durch eine Änderung des Europäischen Direktwahlakts eine Sperrklausel eingeführt werden, die sie aus dem Parlament drängen könnte. Sie soll bei mindestens zwei Prozent liegen. Der Bundestag hat der Änderung des Direktwahlaktes gerade zugestimmt - in diesem Fall waren Ampelkoalition und Unionsfraktion sich mal einig. Der Bundesrat wird die Änderung des Aktes voraussichtlich in seiner nächsten Sitzung am 7. Juli billigen. Abgesehen von Deutschland, Spanien und Zypern haben bereits alle EU-Staaten zugestimmt.

(Foto: SZ-Grafik/Bundeswahlleiterin)

Diese Sperrklausel komme auf Betreiben Deutschlands, klagen die Kleinparteien unisono. Die aktuelle Bundesregierung und ihre Vorgänger hätten sich vehement dafür eingesetzt. Die Grünen hätten die Änderung lange verhindert, ohne sie habe es nicht die nötige Zweidrittelmehrheit im Bundestag gegeben. Doch bei den Koalitionsverhandlungen mit SPD und FDP seien die Grünen dann umgefallen - deshalb sei der Weg jetzt frei. Aber warum wählt die Ampelkoalition den Weg über Europa und führt nicht einfach national eine Sperrklausel ein? Um das zu verstehen, ist ein Rückblick nötig.

Bei den Europawahlen gab es in Deutschland zunächst eine Fünf-Prozent-Hürde. Nach der Wahl 1994 durften deshalb zum Beispiel die FDP und die Republikaner keine Abgeordneten mehr entsenden, weil sie unter die Hürde gerutscht waren. 2011 hat das Bundesverfassungsgericht die Fünf-Prozent-Hürde dann jedoch gekippt. Daraufhin wurde eine Drei-Prozent-Hürde beschlossen, die das Verfassungsgericht aber noch vor der Europawahl 2014 ebenfalls verworfen hat. Die Sperrklausel verstoße gegen die Grundsätze der Chancengleichheit der politischen Parteien und der Wahlrechtsgleichheit, befanden die Richter. Die Situation im Europäischen Parlament sei eine andere als die im Bundestag, "wo die Bildung einer stabilen Mehrheit für die Wahl einer handlungsfähigen Regierung und deren fortlaufende Unterstützung nötig" sei.

Satiriker Sonneborn ärgert sich über Frank-Walter Steinmeier

Bei der Europawahl 2014 zogen deshalb acht Parteien ins Parlament ein, obwohl sie unter fünf Prozent geblieben waren. Einer dieser Abgeordneten war Martin Sonneborn - er sitzt immer noch im Europaparlament. Am Montag zitiert er eine Passage aus einem Artikel der Süddeutschen Zeitung aus dem Jahr 2014, um zu belegen, dass es schon seit damals Bestrebungen gibt, die kleinen Parteien durch einen Umweg über europäisches Recht wieder los zu werden.

In dem Artikel stand, dass der damalige Außenminister und heutige Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier gesagt habe, auch wegen Sonneborns "Jux-Partei" müsse man sich fragen, "ob es wirklich für alle Zeiten unzulässig sein soll, über eine Sperrklausel für das Europaparlament nachzudenken". Wenn dies über das nationale Recht nicht gehe, müsse man halt überlegen, auf europäischer Ebene eine solche Hürde einzuführen.

Genau so ist es gekommen. Wenn Deutschland, Spanien und Zypern die Änderung jetzt ratifizieren, kann die Sperrklausel von der übernächsten Europawahl an gelten. Die deutschen Regierungsparteien "haben mit diesem Vorgehen einen Weg gefunden, die europäische Ebene für undemokratische Vorhaben zu missbrauchen, um das deutsche Verfassungsgericht auszuschalten", sagt Piratenpartei-Chefin Herpertz. Das sei ein "Missbrauch der eigenen Macht zum Nachteil der politischen Gegner".

Das Argument von der Zersplitterung lässt die Piratenpartei nicht gelten

Herpertz lässt auch das Argument von der angeblichen Zersplitterung des Europaparlaments nicht gelten. Zum einen seien im Parlament bereits jetzt rund 200 Parteien aus 27 Staaten vertreten, trotzdem sei es arbeitsfähig. Zum anderen hätten sich fast alle Abgeordneten der deutschen Kleinparteien den großen Fraktionen angeschlossen.

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In der Ampelkoalition sehen sie das jedoch ganz anders. Der FDP-Abgeordnete Valentin Abel verwies vor der Abstimmung im Bundestag darauf, dass die 96 deutschen Europaabgeordneten mehr als einem Dutzend Parteien entstammen. Mit einer Zwei-Prozent-Sperrklausel verhindere man die Zersplitterung und stelle sicher, dass "auch die Vertretung Deutschlands innerhalb des Europäischen Parlaments stark und selbstbewusst vonstattengehen kann". Außerdem stärke man die Handlungsfähigkeit des ganzen Parlaments. In seiner fast 50-jährigen Geschichte habe es diese Handlungsfähigkeit vielleicht nie so dringend benötigt wie derzeit angesichts der Herausforderungen "Klimawandel, Nachwehen der Covid-Pandemie und Migrationsfragen".

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