Interview mit Jean Asselborn:"Europa braucht wieder eine große Erzählung"

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"Man muss die Menschen wieder stärker daran erinnern, was Europa im täglichen Leben alles gebracht hat", sagt Jean Asselborn. (Foto: Oliver Dietze/picture alliance/dpa)

Zwei Jahrzehnte hat er als Luxemburgs Außenminister die EU wesentlich mitgeprägt. Er ist überzeugt: Die gemeinsamen Werte sind ihr Zement und müssen verteidigt werden. Mit einem starken Plädoyer für ein einiges Europa verabschiedet er sich aus der Politik.

Interview von Jan Diesteldorf und Hubert Wetzel, Verdun

Fast zwanzig Jahre lang, von Juli 2004 bis November 2023, war Jean Asselborn Außenminister von Luxemburg. Der Sozialdemokrat hat in dieser Zeit Europas Politik maßgeblich mitgestaltet. Jetzt ist er nicht mehr im Amt, sodass er in seinem Privatauto zu dem Treffen kommt: einem neuen, elfenbeinweißen Tesla. Das Gespräch findet im Café des Weltkriegsmuseums von Verdun statt, an einem Ort, der wie kaum ein anderer an die finstere Vergangenheit der Europäer erinnert - und zeigt, was die europäische Einigung bedeutet.

SZ. Herr Asselborn, wir treffen uns hier in Verdun, wo im Ersten Weltkrieg Hunderttausende Soldaten gefallen sind. Ihr früherer Chef, Premierminister Jean-Claude Juncker, hat einmal gesagt: Wer an Europa zweifelt, wer an Europa verzweifelt, der sollte Soldatenfriedhöfe besuchen.

Jean Asselborn: Hier starben 1916 dreihunderttausend Menschen. Wir haben es fertiggebracht, dass seit 1945 in der Europäischen Union kein Krieg mehr stattfand. Man muss sich vorstellen - ohne EU, was hätte nach dem Fall der Mauer geschehen können! Deshalb ist dieser Ort schon einer, der prägen muss.

Was heißt das im Europa von heute?

Wir leben in einer komischen Zeit: In Amerika wird über eine mögliche Diktatur gesprochen, während in Russland jemand an der Macht ist, der Stalin imitieren will. Wir hier in Europa sind in seinen Augen alle Nazis, nicht nur die Ukrainer, sondern wir alle. In dieser Zeit kann es nur eine Parole in Europa geben: dass wir unsere Wertegemeinschaft verteidigen und zusammenstehen müssen. Und uns nicht auseinanderziehen lassen, wie das jetzt die Populisten versuchen zu tun.

Die Toten von Verdun waren, wenn man so will, Opfer des Nationalismus. Der ist jetzt wieder beliebt. Gewinnen die, die uns auseinanderziehen?

Es geht längst um Grundsätzliches. Als ich 2004 Außenminister wurde, wehte ein anderer Wind in Europa. Natürlich gab es auch Probleme. Aber es war ein Wind der Hoffnung. In dieser Zeit haben wir mit dem Verfassungsvertrag versucht, Europa näher zusammenzubringen. Nach dem Nein in Frankreich und den Niederlanden haben wir gesagt: Wir lassen uns nicht gehen. 2007 haben wir den Grundstein gelegt für den Lissabon-Vertrag. Und wir hatten die Hoffnung: Es geht doch. Das ist etwas, das ich heute wirklich vermisse. Heute hoffen wir, dass bleibt, was wir erkämpft haben. Aber wir haben Angst vor dem, was kommt.

Jean Asselborn 2022 mit seiner Amtskollegin Annalena Baerbock am Europadenkmal in Schengen. (Foto: Thomas Trutschel/IMAGO/photothek)

Was ist das Schlimmste, was kommen könnte?

Wenn wir die Werte der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte nicht mehr beachten, dann hat dieses Europa auch nicht mehr den Zement, der uns zusammenkittet. Dieses Projekt funktioniert nur, weil es auf gemeinsamen Werten aufgebaut ist. Dabei dürfen wir das Ziel eines föderalen Europas nie aus dem Blick verlieren. Das Europa der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts muss eines sein, in dem wir eine europäische Regierung haben, ein Parlament und ein Gericht.

Momentan geht es aber in die andere Richtung.

Momentan hat das keine Aussicht auf Erfolg. Trotzdem: Wir dürfen das große Ziel nicht aus den Augen verlieren.

Warum wenden sich so viele Menschen den Nationalisten zu?

Weil die Welt nur noch aus Überschriften besteht. Es ist ziemlich einfach zu sagen: Migration ist Terrorismus. Die Ausländer nehmen uns die Arbeitsplätze weg. Oder: Wir kriegen aus Brüssel gesagt, wie wir zu denken haben. Das ist alles sehr einfach, und es gibt es eine Menge Menschen, die darauf hereinfallen.

Was also tun?

Ich glaube, Europa zu verteidigen, das funktionierte bislang immer an Orten wie diesem hier, in Verdun: Wollt ihr wieder Krieg, oder nicht? Aber das genügt nicht mehr. Europa braucht wieder eine große Erzählung. Und es muss konkreter werden. Wir müssen den Menschen, vor allem den jungen, deutlicher sagen: Wollt ihr Erasmus behalten? Wollt ihr, dass wir Schengen behalten, die offenen Grenzen? Wollt ihr den Euro behalten? Oder wollt ihr das alles kaputt schlagen und wieder Palisaden um jedes Land bauen?

Aber machen wir uns nicht zu wenig bewusst, dass die EU eine Friedensgarantie ist?

Mit Sicherheit. Aber es genügt einfach nicht mehr zu sagen: Krieg oder Frieden. Man muss die Menschen auch wieder stärker daran erinnern, was Europa im täglichen Leben alles gebracht hat. Wir sind an einem gefährlichen Punkt für die EU, wenn wir uns nicht zusammenreißen. Auch mit Viktor Orbán.

Der rechtspopulistische ungarische Regierungschef tritt sehr selbstbewusst auf.

Die Gefahr ist groß, dass Orbán die EU-Verträge nicht respektiert. Da muss man sich auch einmal trauen, Artikel 7 auszureizen und Ungarn das Stimmrecht im Europäischen Rat zu entziehen. Ein Illiberaler wie Orbán darf das Europa der Werte nicht im Alleingang kaputt machen.

Waren wir mit Ungarn zu geduldig?

Ja. Und zu nachlässig. Orbán hat immer drei Schritte nach vorn gemacht und dann einen zurück. Das geht jetzt seit 13 Jahren so. Und es gab Menschen auch in der Europäischen Volkspartei, die haben ihn noch bis vor zwei, drei Jahren verteidigt. Angela Merkel hat ihn auch lange verteidigt. Das bügeln wir jetzt nicht mehr aus. Ich war einer der Ersten, der Orbán schon 2010 ganz scharf kritisiert hat. Wenn ein Land die Demokratie verlässt, dann hat es auch nichts mehr in diesem Europa zu suchen.

Wenn wir in einem Jahr wieder hier sitzen, könnte die Situation noch einmal deutlich düsterer sein.

Nächstes Jahr sind Wahlen in Indien, in Großbritannien, in Russland, in der EU. Die wichtigste Wahl aber wird die in den USA sein. Ich habe gesehen, wie groß der Einfluss von Trump von 2016 an war, als sich plötzlich alle Nationalisten gestärkt fühlten. Wie können die Menschen in Amerika, wo es so viele gescheite Leute gibt, noch einmal ernsthaft für diesen Trump stimmen? Trump würde keine Sekunde zögern, Wladimir Putin in Sachen Ukraine zu sagen: Du bekommst dies und das.

Er macht einen Deal mit ihm.

Genau, einen Deal. Der kann aber nur in eine Richtung gehen.

Sie reden von "Europa" immer im Singular. Ist das denn überhaupt noch zutreffend?

Man darf die Fragmentierung Europas nicht an Orbán ablesen. Er führt ein Land von zehn Millionen Menschen. Das sind viele, viel mehr als in Luxemburg. Aber es sind zehn von 450 Millionen. Es gibt das eine Europa noch, deshalb rede ich auch davon. Wenn ich das nicht mehr tue, können Sie sicher sein, dass es die EU in ihrer heutigen Form nicht mehr gibt. Die Geschichte ist kein Labor. Wenn dieses Europa einmal fällt, dann ist es gefallen.

Sie haben zwanzig Jahre europäischer Politik hinter sich. Haben Sie das Gefühl, dass Leute, deren Geburtsjahr näher am Zweiten Weltkrieg liegt, ein anderes inneres Verhältnis zur EU haben?

Gerhard Schröder hat in jedem Europäischen Rat gesagt: Die EU ist ein Friedensprojekt. Angela Merkel war auch aus ihrer eigenen Geschichte eine Europäerin. Irgendwann vor ein paar Jahren kam aber die Erkenntnis auf: Je mehr ich gegen die Beschlüsse der Europäischen Union bin, desto mehr kann ich bei Wahlen punkten. Das stellt alles auf den Kopf. Wenn man in nationalen Wahlen erfolgreich sein will, muss man gegen Beschlüsse der EU sein? Ja, so weit sind wir.

"Leben in Freiheit ist etwas, das wir erhalten müssen": Asselborn mit der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel 2010 in Lissabon. (Foto: PIERRE-PHILIPPE MARCOU/AFP)

Es gibt für die EU eigentlich nur zwei Alternativen: Entweder das System zerbricht, oder es integriert sich mehr. Was ist realistischer?

Ich glaube, Europa verläuft in Wellen. Die jetzige Welle ist eine nationalistische. Ich hoffe nicht, dass es zu einer Katastrophe kommen muss, damit wir einsehen, dass es nicht so weitergeht.

Was wäre die Katastrophe?

Die Katastrophe wäre eine dauerhafte Spaltung des europäischen Willens, der europäischen Seele. Eine Situation, in der die einen zu Putin stehen und die anderen zu Trump. Ich bin überzeugt, dass es noch eine Generation von Menschen gibt, die wissen: Leben in Freiheit ist etwas, das wir erhalten müssen.

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Sie reden oft von europäischen Werten. Was sind diese Werte?

Es sind die Werte, die wir leben - die Einstellung zum Leben, zur Freiheit, zur Demokratie. Dass wir Respekt haben vor den Menschen. Dass wir Minderheiten schützen. Dass wir andere Meinungen respektieren. Das war nach dem Zweiten Weltkrieg doch die Seele, die uns zusammengeführt hat! Nie mehr Krieg. Ja, aber wie? Das kann man nicht per Vertrag festschreiben. Es muss hinzukommen, wie die Menschen leben möchten.

Auch Sie galten früher als russlandfreundlich und haben sehr lange festgehalten am Prinzip "Wandel durch Handel".

Ja, das Zitat von Egon Bahr! Ich habe immer gesagt: Wenn man Wandel durch Handel mit Breschnew und Gorbatschow hinbekommt, dann muss das auch mit Putin gehen.

Bei der deutschen SPD hat man den Eindruck, einige haben noch immer nicht verstanden, dass diese Strategie gescheitert ist. Wann haben Sie es eingesehen?

Ich war am 9. Mai 2005 mit Jean-Claude Juncker in Moskau. Ich habe damals einen Tag im Kreml verbracht und Putin erstmals getroffen. Dann war ich in München, Sicherheitskonferenz 2007. Dann kam Putin nach Luxemburg auf Staatsbesuch. Man konnte mit ihm normal reden. Bei anderen hätte ich gesagt: Dem traue ich keinen Millimeter. Das war bei Putin anders.

"Ohne Fahrrad zu leben, das wäre schwierig": Jean Asselborn (li.) 2016 bei einer Tour mit dem damaligen US-Außenminister John Kerry (re.). (Foto: THIERRY MONASSE/AFP)

Dann kam 2014, die Besetzung der Krim.

Das hat mich vom Stuhl gerissen. Das habe ich nicht verstanden. Fast zwei Drittel der Leute im EU-Außenministerrat haben auch nach der Krim-Invasion noch gesagt: Morgen gibt es Russland immer noch, wir teilen uns einen Kontinent, also lasst uns weitermachen und versuchen, das Schlimmste zu verhindern. Der größte Fehler danach war die Gaspipeline Nord Stream 2. Die hätten wir nicht bauen dürfen. Ich habe meinen Amtskollegen Sergej Lawrow zum letzten Mal im Dezember 2021 getroffen. Als ich die Bilder von Butscha gesehen habe, da konnte ich nicht mehr mit ihm reden. Ich habe nie wieder mit ihm telefoniert. Das hätte ich nicht fertiggebracht.

Sie fahren leidenschaftlich gern Rennrad. Und Sie haben mal gesagt: Wenn man Ihnen das Fahrrad nähme, könnten Sie keine Politik mehr machen. Jetzt hat man Ihnen die Politik genommen. Können Sie loslassen?

Nein, die Politik hat man mir nicht genommen. Ich wusste ja, dass nach zwanzig Jahren einmal Schluss sein würde. Ich bin jetzt 74. Es ist auch nicht unbedingt gut, wenn jemand so lange Außenminister ist, über Generationen. Ob ich bei der Europawahl kandidiere, das weiß ich noch nicht.

Sie können also nicht loslassen!

Ich zögere. Ohne Fahrrad zu leben, das wäre schwierig. Aber ohne Politik, das geht schon, merke ich gerade.

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