Dem Reich der vielen Völker schien die Zukunft zu gehören: Die Industrie florierte, die Wirtschaft wuchs, den Menschen ging es immer besser. Ihre Zivilisation war so anziehend, dass sich zahlreiche Länder ihrem Handelssystem anschließen wollten. Zwischen Japan und dem Persischen Golf, Sumatra, Sri Lanka und Ostafrika fuhren die Schiffe, um Waren auszutauschen und politische Bande zu knüpfen. Anfang des 15. Jahrhunderts war China unter dem Ming-Kaiser Zhu Di nicht weit davon entfernt, das Kap der Guten Hoffnung zu umsegeln und nach Europa zu gelangen. Die Weltgeschichte wäre anders verlaufen.
Doch plötzlich drehte China bei. Der Konfuzianismus verachtete die Händler und ihren Reichtum. Die fremden Einflüsse, die der Handel mit sich brachte, irritierten die Eliten. Unter den folgenden Kaisern zog sich China wieder mehr auf sich zurück. Der Bau großer Schiffe wurde verboten, die alten wurden verbrannt. Statt neue Welten zu entdecken, ließen die Kaiser die Große Mauer ausbauen. Auf den Weltmeeren machten sich die Europäer breit. Im 19. Jahrhundert setzten sie sich an Chinas Küsten fest und zwangen dem Land ihren Willen auf, was die chinesische Wirtschaft zerstörte.
Auch die Europäische Union war einmal ein attraktives Vielvölkerreich, das Sicherheit und Wohlstand versprach. Auch hier führte Handel zu Wachstum, Austausch, kultureller Blüte. Der Welt galt dieses Europa als Modell für ein Zeitalter, in dem die Nationalstaaten die Probleme nicht mehr allein lösen können.
Europas Freunde dürfen den Konflikt nicht länger scheuen
Heute jedoch wird Europa nicht mehr bewundert, sondern belächelt. Das Hin und Her in der Euro-Krise, die chaotische Flüchtlingspolitik, der Brexit und die Posse um die Zustimmung der Wallonie zum Ceta-Vertrag haben den Nimbus Europas verdunkelt. Viele Europäer reden von Brüssel, als sei es Dantes neunter Kreis der Hölle, in dem die Verräter schmoren. Der Freihandel wird jetzt als Gefahr betrachtet, die offenen Grenzen gelten als Einfallstore des bedrohlich Fremden.
In vielen Staaten findet ein Paradigmenwechsel statt. Mauern werden nicht mehr ab-, sondern aufgebaut. Statt Freihandel wird Protektionismus gefordert. Regierungen verlangen, dass Macht von Brüssel zu ihnen zurückverlagert wird. Wenn es noch eines Beweises bedurfte, so hat ihn die kleine Wallonie erbracht: Die Jahrzehnte, in denen sich Europa eines Grundwohlwollens der schweigenden Mehrheit sicher sein durfte, sind vorbei.
Warum ist es dazu gekommen? Nun, die Schrecken der Weltkriege verblassen. Der historische Ausnahmezustand eines friedlichen Europas gilt als Selbstverständlichkeit. Gleichzeitig rächt es sich, dass die Union sich vor ihren Erweiterungen auf heute 28 Mitgliedstaaten keine solide, klare Struktur gegeben hat. Wie in Brüssel entschieden wird und wer in der EU für was verantwortlich ist, durchschaut kein normaler Mensch. Das Europaparlament, das nicht einmal das Recht hat, Gesetze einzubringen, wird kaum als der Ort wahrgenommen, wo für Bürgerinteressen gekämpft wird. Wohler ist es vielen Menschen, wenn, wie bei Ceta, alle nationalen Parlamente zustimmen müssen, was immer schwerer zu erreichen ist.
Auch werfen etliche Bürger Europa vor, den Sozialstaat nicht genug gegen Konzerne, Markt und Globalisierung zu verteidigen. Der Vorwurf sitzt. Das Mantra, die Globalisierung nütze allen, lullt niemanden mehr ein. Die seit Jahren andauernde Wirtschafts- und Schuldenkrise hat viele Verlierer hervorgebracht und noch mehr Menschen, die finden, für die Krise bezahlten die Falschen. Die Flüchtlinge verstärken bei etlichen Europäern noch das Gefühl, alles entgleite ihrer Kontrolle.