Europäische Union:EU-Parlament stimmt für Wahlreform

Europäische Union: Bodenständig: Die Sterne der EU-Flagge als Kunstwerk.

Bodenständig: Die Sterne der EU-Flagge als Kunstwerk.

(Foto: TOBIAS SCHWARZ/AFP)

Ein neues Verfahren soll die europäische Demokratie und das Spitzenkandidatenprinzip stärken. Mehreren kleinen Parteien droht dadurch allerdings der Verlust ihrer Mandate.

Von Matthias Kolb, Brüssel

Das Europäische Parlament möchte den Wählerinnen und Wählern bei Europawahlen eine Zweitstimme geben, um die europäische Demokratie und das Spitzenkandidatenprinzip zu stärken. In Straßburg stimmten 323 Abgeordnete für den Vorschlag des spanischen Sozialdemokraten Domènec Ruiz Devesa, 262 lehnten ihn ab und 48 enthielten sich. Die Reform sieht vor, das passive Wahlalter auf 18 zu senken, überall Briefwahl zu ermöglichen und den 9. Mai zum festen Wahltag und europaweiten Feiertag zu machen. Menschen mit Behinderungen sollen gleichen Zugang zu Wahlen erhalten.

Für Deutschland relevant ist die Einführung einer Sperrklausel von 3,5 Prozent; damit dürften Freie Wähler, die Tierschutzpartei, die ÖDP oder die Satirepartei "Die Partei" anders als bisher wohl niemand mehr nach Straßburg und Brüssel schicken können. Zudem soll es möglich sein, das Wahlalter auf 16 Jahre zu senken. Um den Anteil weiblicher Abgeordnete zu erhöhen, sollen die Listen nach dem Prinzip "abwechselnd ein Mann, eine Frau" oder mit einer selbst gesetzten Frauenquote aufgestellt werden.

In langen Verhandlungen hatte sich Devesa mit Christdemokraten, Liberalen, Grünen und Linken auf einen Kompromiss geeinigt, der sich als mehrheitsfähig erwies. Als "unvorhersehbar" hatte Sven Simon (CDU), Verhandlungsführer der Europäischen Volkspartei, das Meinungsbild vor dem Votum bezeichnet und freute sich anschließend über einen "historischen Schritt": Nach 45 Jahren gebe es die Chance auf ein EU-einheitliches Wahlrecht.

Der Vorschlag des Parlaments, dem noch alle 27 Mitgliedstaaten zustimmen müssen, sieht die Einführung eines EU-weiten Wahlkreises mit 28 weiteren Sitzen vor. Darin sollen die europäischen Parteienfamilien antreten, die jeweils eine Person nominieren, die künftig die EU-Kommission leiten soll. Die Namen der Spitzenkandidaten sowie die Logos der Parteifamilien stünden folglich in 27 Ländern auf allen Wahlzetteln, was deren Bekanntheit und Sichtbarkeit steigern soll.

Dadurch, so die Hoffnung, soll das Szenario von 2019 vermieden werden: Damals entschied der Europäische Rat, das Gremium der Staats- und Regierungschefs, weder den Spitzenkandidaten der größten Fraktion, den CSU-Mann Manfred Weber, noch den Sozialdemokraten Frans Timmermans als Chef der der EU-Kommission zu nominieren, sondern kürte Ursula von der Leyen. Zwar würde das neue Wahlrecht eine solche Missachtung des Europaparlaments nicht unmöglich machen, wie CDU-Mann Simon zugibt. Er sagt aber: "Wenn Millionen von Menschen mit ihrer Zweitstimmen auf einem europäischen Wahlschein die gleiche europäische Partei mit der gleichen Person an der Spitze gewählt haben, dann wird es dem Europäischen Rat verdammt schwer gemacht, diese Person eben nicht zu nehmen."

Deutsche Kleinparteien klagen über "schamlose Selbstbedienung"

Domènec Ruiz Devesa kündigte am Dienstag an, sobald wie möglich das Gespräch mit den Mitgliedstaaten aufnehmen zu wollen. Diese müssen den Vorschlag der Abgeordneten nämlich einstimmig annehmen und später auch in nationales Recht übertragen. Dass dies bereits bis zur nächsten Europawahl 2024 gelingt, bezweifeln jedoch einige Abgeordnete und Beobachter.

Von den 29 Abgeordneten der CDU/CSU-Fraktion stimmten schließlich 27 für die Resolution. Für viele dürfte es wichtig sein, dass eine Sperrklausel eingeführt wird. Diese würde bei 3,5 Prozent liegen und für Mitgliedsländer gelten, die aus nationalen Wahlkreisen mehr als 60 Abgeordnete ins EU-Parlament schicken. Das wären neben Deutschland noch Frankreich und Italien, allerdings gibt es dort bereits eine Sperrklausel beziehungsweise mehrere Wahlkreise. Nicht zu unrecht sprach Damian Boeselager, der für die Grünen-Fraktion das Dossier verhandelt hat und der einzige EU-Abgeordnete der Partei Volt ist, daher von einer "Lex Deutschland". Boeselager kritisierte diese Hürde zwar als "antidemokratisch" und "Stimmenklau", lobte aber den Kompromiss: "Er könnte unsere europäische Demokratie ins 21. Jahrhundert katapultieren."

Deutlich kritischer äußerten sich Abgeordnete der kleinen Parteien. "Diese schamlose Selbstbedienung ist ein Affront gegen das Bundesverfassungsgericht und ein Anschlag auf unsere Demokratie", sagt etwa Patrick Breyer von den Piraten. Er verweist darauf, dass mit der geplanten Sperrklausel von 3,5 Prozent "bei der letzten Europawahl 3,1 Millionen Wählerstimmen für sechs kleine Parteien" verfallen und "an das politische Establishment" gegangen wären .

Der Linke Helmut Scholz sagte, die Position der christdemokratischen Europäische Volkpartei werfe Fragen über deren "Demokratieverständnis" auf. Nach Ansicht des Satirikers Martin Sonneborn, der seit 2014 "Die Partei" im Europaparlament vertritt, orientieren sich CDU und SPD "bei ihrem Umgang mit dem Bundesverfassungsgericht offenbar an den Regierungen in Polen und Ungarn." Sonneborn spielt darauf an, dass die Einführung einer Sperrklausel zweimal in Karlsruhe gescheitert war, nämlich 2011 und 2014. Im Kern argumentierte das Verfassungsgericht in beiden Fällen, es gebe keinen Grund, mit solch einer Sperrklausel so deutlich in die Stimmrechtsgleichheit und in die Chancengleichheit der Parteien einzugreifen. Insbesondere gebe es keine Anzeichen dafür, dass sich die Existenz der kleinen Parteien nachteilig auf die Funktionsfähigkeit des Europaparlaments auswirke.

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