Die Welt der europäischen Migrationspolitik, wie Manfred Weber sie sieht, unterteilt sich in drei Gruppen. Da seien zum einen die rechten Hetzer, die mit der Angst vor Flüchtlingen ihre Anhänger mobilisieren. Da seien zum anderen die Moralisierer, angesiedelt im linken und grünen Milieu, die beim Versuch, die Flüchtlingszahlen zu senken, jegliche Zusammenarbeit mit Staaten wie Tunesien ablehnen, weil dort Menschenrechte verletzt werden. Und drittens gebe es die Pragmatiker, die nach Lösungen suchen. Dort sieht der CSU-Politiker sich selbst und die von ihm geführte Europäische Volkspartei (EVP).
Mit diesem Anspruch reiste Weber diese Woche für zwei Tage nach Tunis. Er sprach mit dem Präsidenten Kais Saied über das Partnerschaftsabkommen, das die EU im Juli mit Saied geschlossen hat. Finanzhilfen in Höhe von einer Milliarde Euro könnten nach Tunesien fließen, wenn man sich in den nächsten Monaten auf die konkreten Bedingungen einigt. 105 Millionen Euro wurden bereits überwiesen, um den tunesischen Grenzschutz zu stärken.
Kommunalpolitiker in Italien klagen, sie seien überlastet
Die Gespräche seien höchst respektvoll verlaufen, sagt Weber. Es gehe darum, die Beziehungen zwischen Tunesien und EU langfristig zu entwickeln. Nach einer langen Phase der Entfremdung, bedingt auch durch europäische Arroganz, gebe es nun eine gemeinsame Arbeitsgrundlage. Aber seine Botschaft sei klar gewesen: "Es geht um viel Geld der europäischen Steuerzahler. Wir brauchen Ergebnisse. Die Zahlen müssen runter." Das aber ist nicht der Fall, die Flüchtlingszahlen sinken bislang nicht. Sie gingen auch in den letzten Wochen nach oben. Das könnte spätestens im Herbst die ganze Migrationspolitik der Europäischen Union gefährden.
Mehr als 110 000 Migranten sind in diesem Jahr schon übers Mittelmeer nach Italien gekommen, doppelt so viele wie 2022, die allermeisten aus Tunesien. Die Insel Lampedusa, der südlichste Außenposten, hat keine Aufnahmekapazitäten mehr. Überall im Land klagen Kommunalpolitiker, sie seien überlastet mit der Unterbringung von Flüchtlingen. Und viele Migranten reisen weiter in andere EU-Staaten.
Die tunesische Regierung rechtfertigt sich damit, dass viele Migranten, die sich im Land aufhalten, aufgeschreckt worden seien von dem EU-Tunesien-Deal. Sie würden nun ihre letzte Chance suchen, übers Meer nach Italien zu gelangen. Zu Spekulationen gibt allerdings ein Abkommen Anlass, das Saied zuletzt mit Saudi-Arabien geschlossen hat. Tunesien erhält demnach Finanzhilfen in Höhe von etwa 500 Millionen Dollar, ohne Auflagen. Europa dagegen beharrt darauf, das Land müsse die Bedingungen des Internationalen Währungsfonds erfüllen.
Ein Muster für andere Staaten
Braucht Saied also die Europäer nicht mehr? Das Tunesien-Abkommen ist jedenfalls von strategischer Bedeutung für die EU. Es soll ein Muster sein für die Zusammenarbeit mit Staaten wie Marokko und Ägypten, um Fluchtwege zu schließen. Doch mittlerweile ist es von allen Seiten in die Kritik geraten.
Ein "Team Europe" mit Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, Italiens Regierungschefin Giorgia Meloni und dem niederländischen Ministerpräsidenten Marc Rutte hatte das Abkommen im Juli geschlossen, ohne den Rat der Mitgliedsländer angemessen zu informieren. Die deutsche Regierung zeigte sich, wie viele andere auch, pikiert. Zu den formalen Bedenken kommen menschenrechtliche hinzu.
Nicht nur Aktivisten beharren darauf, der tunesische Präsident könne kein Partner für die EU sein, weil er autokratisch regiere und Flüchtlinge aus Ländern südlich der Sahara unmenschlich behandle. Dutzende sind offenbar gestorben, weil tunesische Grenzbeamte sie buchstäblich in die Wüste schickten. Dieses Abkommen sei ein Fehler, sagt nun sogar Frans Timmermans, bis vor kurzem von der Leyens Stellvertreter und mittlerweile Spitzenkandidat von Sozialdemokraten und Grünen im niederländischen Wahlkampf.
Manfred Weber sagt, er habe die Frage der Menschenrechte gegenüber Saied angesprochen. Europa kenne seine humanitären Verpflichtungen. Es gehe auch darum, das Sterben im Mittelmeer zu beenden. Auch deshalb müsse Europa zu Vereinbarungen mit den nordafrikanischen Staaten kommen.
Sollte die irreguläre Migration übers Mittelmeer nicht bald abnehmen, würde das die Reform des europäischen Asylrechts gefährden. Im Juni haben sich die Mitgliedstaaten im Grundsatz verständigt: Asylverfahren für Bewerber mit geringen Aussichten sollen künftig im Schnellverfahren in großen Lagern an den EU-Außengrenzen abgewickelt werden. Meloni hat der Regelung, die große Belastungen für ihr Land bringt, nur zugestimmt, weil man ihr den Tunesien-Deal in Aussicht stellte.
Deshalb gerät die Regierungschefin nun unter Druck. Sie hat ihren Landsleuten sinkende Zahlen versprochen. Diese Woche erklärte ihr Staatssekretär: Die Zahl der Migranten, die aus Tunesien komme, steige zwar weiter. Aber die Dynamik, mit der sie steige, lasse nach. Lange wird sich ihre Anhängerschaft mit Rechenspielen nicht zufrieden geben. Bislang zählt Giorgia Meloni auf europäischer Ebene zu Manfred Webers Kategorie der Pragmatiker in der Migrationspolitik.