Migrationskrise in Osteuropa:EU-Kommission will Asylrecht aufweichen

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Migranten erhalten in der Nähe eines belarussischen Logistikzentrums am Kontrollpunkt Bruzgi Lebensmittel von den Behörden. (Foto: Oksana Manchuk/BelTA/AP/dpa)

So soll Polen, Lettland und Litauen der Umgang mit Migranten erleichtert werden, die Belarus an die Grenze lotst. Menschenrechtsorganisationen sind "zutiefst beunruhigt".

Von Florian Hassel und Josef Kelnberger, Brüssel/Belgrad

Gibt die Europäische Union in der Migrationskrise an der Grenze zu Belarus ihre eigenen Prinzipien auf? Der Kommissionsvize Margaritis Schinas und die für Migration zuständige Kommissarin Ylva Johansson präsentierten am Mittwoch umstrittene Vorschläge zur temporären Aufweichung des Asylrechts. Sie sollen es den Regierungen in Polen, Litauen und Lettland erleichtern, mit den vielen Migranten umzugehen, die der belarussische Autokrat Alexander Lukaschenko an die Grenze lotst. Grundrechte würden nicht eingeschränkt, sagte Johansson. Menschenrechtsorganisationen widersprachen.

Die Behörden der Grenzländer sollen demnach länger Zeit haben, um Asylanträge zu registrieren, vier Wochen statt maximal zehn Tage. Der Asylprozess dürfte bis zu 16 Wochen dauern. Das könnte bedeuten, dass Menschen so lange in Auffangzentren nahe der Grenze untergebracht werden. Außerdem will man einfachere und schnellere Abschiebungen erlauben. Die Kommission stützt sich auf Artikel 78 (3) des Vertrags über die Arbeitsweise der EU, der bei einer "Notlage" infolge eines "plötzlichen Zustroms von Drittstaatsangehörigen" besondere Maßnahmen vorsehe. Sie müssten nun von den Mitgliedstaaten angenommen werden.

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Die Organisation Pro Asyl nannte den Vorschlag "zutiefst beunruhigend". Das Paket zeige, dass die Hardliner in Europa mittlerweile die Brüsseler Agenda bestimmten. Der Vorschlag war selbst in der Kommission sehr umstritten, bis Dienstagabend war um eine gemeinsame Haltung gerungen worden, zumal die polnische Regierung mit ihrer eigenen Gesetzgebung europäische Regeln verletzt.

In Polen trat am Mittwoch ein neues, erst am Vortag verabschiedetes Grenzschutzgesetz in Kraft, das den am 2. Dezember auslaufenden Ausnahmezustand im Grenzgebiet zu Belarus ersetzt. Das Gesetz bevollmächtigt den Innenminister, den Zugang zum Grenzgebiet für alle Nicht-Anwohner nach eigenem Ermessen zu verbieten - in einer bis zu 15 Kilometer tiefen Zone statt wie bisher drei Kilometer.

Neues polnisches Gesetz zum Schutz der Grenze widerspricht EU-Recht

Das Gesetz widerspricht dem juristischen Dienst des Senats (dem Oberhaus des Parlaments) zufolge der polnischen Verfassung: Das Recht auf Bewegungsfreiheit werde ebenso verletzt wie die Rechte auf Demonstrations- und Versammlungsfreiheit und die Rechte auf Presse- und Informationsfreiheit. Auch Polens Bürgerrechtskommissar beurteilte das Gesetz umfassend negativ. Gleichwohl wurde es am Dienstag mit den Stimmen der Regierungsmehrheit im Sejm angenommen.

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Das Grenzschutzgesetz folgt einem EU-Recht und andere internationale Konventionen verletzenden Gesetz vom 26. Oktober, das die Praxis legalisierte, Migranten und Flüchtlinge in rechtswidrigen Pushbacks über die Grenze zurückzuschieben. Tatsächlich ist Polen wie andere Staaten verpflichtet, es Menschen selbst dann zu ermöglichen, einen Asylantrag zu stellen, wenn sie illegal die Grenze überquert haben. Nur wenige Migranten und Flüchtlinge schaffen es, tatsächlich einen Asylantrag zu stellen.

Unterdessen hat sich die Lage an der Grenze zu Belarus deutlich entspannt. Polens Grenzschutz meldete für den Vortag nur noch 102 Versuche illegalen Grenzübertritts. Fünf Migranten und Flüchtlinge wurden auf belarussisches Gebiet zurückgeschoben. Der belarussische Journalist Tadeusz Giczan meldete bereits am 29. November, die Zahl der Migranten in Belarus betrage nur noch 1000 bis 2000; nach der Schließung von Flugrouten etwa von Istanbul kämen aktuell kaum neue Migranten an. Polnische Offizielle warnten, die relative Ruhe sei "irreführend".

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