Baltikum:"Putin setzt darauf, dass wir ermüden"

Lesezeit: 3 min

"Ohne Sicherheit haben wir nichts", begründet Estlands Premierministerin Kaja Kallas, warum ihre Regierung die Steuer erhöht. (Foto: Thomas Coex/AFP)

In Estland fürchtet man, dass die Unterstützung des Westens für die Ukraine nachlässt. Regierungschefin Kallas erhöht nun sogar Steuern, um die Armee zu stärken - und aus Angst vor Russland ziehen die Menschen mit.

Von Matthias Kolb, Tallinn/Tartu

Kaja Kallas ist bekannt für klare Ansagen. Als eloquente Fürsprecherin der Ukraine hat sich die estnische Premierministerin einen Namen gemacht und nun appelliert sie an die Partner im Westen, nicht mit der Unterstützung für Kiew nachzulassen. "Wir dürfen nicht müde werden, denn Putin setzt darauf, dass wir ermüden", sagt Kallas im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung und anderen deutschen Medien. Ein estnischer Geheimdienstler habe Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine mit einer Operation ohne Betäubungsmittel verglichen, sagt sie: "Und Putin ist überzeugt, dass Russland die Schmerzen länger aushalten wird."

Den Angriff der Hamas auf Israel mit mehr als 1300 Toten nennt die Regierungschefin "entsetzlich". Natürlich brauche der Nahe Osten nun viel Aufmerksamkeit. Aber unter Ministern und Abgeordneten in Tallinn ist doch die Sorge zu spüren, dass die westliche Hilfe für Kiew versiegen könnte. Putin könne zufrieden sein, sagt Außenminister Margus Tsahkna: "Je mehr Chaos in der Welt herrscht, umso weniger Aufmerksamkeit gibt es für die Ukraine."

Estland steckt viel Geld in seine Streitkräfte

In Estland kann man es sich aber nicht leisten, abgelenkt zu sein. "Wir haben eine strategische Tiefe von nur 200 Kilometern, und das ist sehr wenig in einem echten Krieg", sagt Tsahkna. Den 1,3 Millionen Esten und Estinnen sei diese Realität bewusst: "Wir sind bereit zu kämpfen und haben auch keine Angst davor." Sollte Russland nicht umfassend militärisch geschwächt und für die Kriegsverbrechen zur Verantwortung gezogen werden, so die Überzeugung im Baltikum, werden weitere Überfälle auf die Nachbarn folgen.

Also steckt Estland künftig mindestens drei Prozent der Wirtschaftsleistung in die Armee. Stolz zählt Verteidigungsminister Hanno Pevkur auf, was bis 2031 angeschafft werden soll: Haubitzen, Kamikaze-Drohnen, Himars-Mehrfachraketenwerfer-Artilleriesysteme, gepanzerte Fahrzeuge und sehr viel Munition. Kallas zögert auch nicht, mehr von den Partnern zu verlangen: "Ich bin überrascht, dass der Nato-Durchschnitt bei 1,6 Prozent liegt, obwohl ein konventioneller Krieg in der Nachbarschaft tobt."

Um die Investitionen für die Armee zu bezahlen und den Haushalt zu sanieren, erhöht ihre Regierung nun die Steuern. Neben einer Anhebung der Sätze von Mehrwert- und Einkommensteuer von jeweils 20 auf 22 Prozent wird Estland eine Kfz-Steuer einführen - als letztes EU-Land. Gegen die Pläne, die jährlich 230 Millionen Euro Einnahmen bringen sollen, protestiert die Opposition. "Die Autosteuer wird die Mobilität und die Freiheit der Menschen einschränken und die Lebenshaltungskosten noch teurer machen", sagt Urmas Reinsalu von der konservativen Isamaa-Partei.

Das Image der Regierungschefin leidet

Die Inflationsrate ist in Estland zwar von knapp 20 Prozent im Jahr 2022 deutlich gefallen, allerdings sind die Preise für Lebensmittel so hoch wie in Westeuropa - und das monatliche Durchschnittseinkommen beträgt 1800 Euro. Außerhalb der Hauptstadt Tallinn ist es viel weniger. 2023 schrumpft Estlands Wirtschaft, auch weil der Handel mit Russland eingebrochen ist und weniger Touristen kommen.

Und weil Steuererhöhungen vor der Wahl im März, die Kallas' Reformpartei mit 31 Prozent gewonnen hat, kein Thema waren, leidet das Image der Regierungschefin. Nur noch 21 Prozent der Bürger halten die 46-Jährige für die beste Premierministerin. Dass im Sommer herauskam, dass ihr Ehemann an einem Logistikunternehmen beteiligt war, das nach dem 24. Februar 2022 weiter Waren nach Russland fuhr, hat Kallas auch geschadet.

Sie gibt sich kämpferisch: Von den Geschäften ihres Ehemanns habe sie nichts gewusst und sei Opfer einer "Hexenjagd". Sie verstehe, dass die Bürger nach all den Krisen müde seien, und niemand zahle gerne mehr Steuern: "Natürlich würde ich das Geld gern für andere Dinge als Verteidigung ausgeben, aber ohne Sicherheit haben wir nichts."

Newsletter abonnieren
:SZ am Sonntag-Newsletter

Unsere besten Texte der Woche in Ihrem Postfach: Lesen Sie den 'SZ am Sonntag'-Newsletter mit den SZ-Plus-Empfehlungen der Redaktion - überraschend, unterhaltsam, tiefgründig. Kostenlos anmelden.

Dieses Argument scheint zu überzeugen: Es gibt keine Forderungen, der Armee weniger Geld zu geben oder die Unterstützung für Kiew zu reduzieren. 62 000 Ukrainerinnen und Ukrainer hat Estland aufgenommen - bezogen auf die Einwohnerzahl ist kein EU-Land hilfsbereiter. In Kneipen stehen weiter Spendenboxen für Kiew, und wer in der Unistadt Tartu das Institut für Molekularbiologie betritt, trifft in der Aula Freiwillige, die Tarnnetze knüpfen. Der 71-jährige Peeter ist jeden Tag acht Stunden dort, um Stofffetzen und anderes Material zu verteilen. 40 000 Quadratmeter Netze wurden in Estland von der Hilfsorganisation Aitan Kaitsta geknüpft und in die Ukraine geschickt, berichtet Signe Värv: "Bald machen wir Tarnnetze für den Schnee." Sie engagiert sich seit dem russischen Massaker in Butscha und sagt: "Der Krieg dauert viel zu lang, aber wir müssen etwas tun, denn die Ukrainer verteidigen auch uns."

Dass die Esten Russland so ziemlich alles zutrauen und sich für alle Eventualitäten rüsten, zahlt sich gerade aus. Trotz der defekten Gaspipeline "Balticconnector" sei die Versorgungssicherheit gewährleistet, sagt Kallas: "Wir haben uns seit dem Kriegsbeginn vorbereitet." Der Gasspeicher in Lettland, durch den auch Estland versorgt werden kann, ist zu mehr als neunzig Prozent gefüllt, zudem gebe es LNG-Terminals zur Versorgung mit Flüssigerdgas. Weil ein Estland und Finnland verbindendes Datenkabel ebenfalls beschädigt wurde, vermuten Experten Moskau hinter der Zerstörung. Kallas sagt dazu: "Darüber will ich nicht spekulieren, bevor wir alle Fakten kennen."

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusSicherheitslage im Baltikum
:"Für uns ist das eine Frage des Überlebens"

Estland bittet die Nato, noch mehr Soldaten und Militärgerät dauerhaft im Baltikum zu stationieren. Die Sorge der Balten: Russland könnte weitere Nachbarn angreifen, wenn die Ukraine nicht siegt.

Von Matthias Kolb

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: