Jeden Sonntag beschäftigt sich Heribert Prantl, Kolumnist und Autor der SZ, mit einem Thema, das in der kommenden Woche - und manchmal auch darüber hinaus - relevant ist. Hier können Sie "Prantls Blick" auch als wöchentlichen Newsletter bestellen - exklusiv mit seinen persönlichen Leseempfehlungen.
Es gibt erstens einen offiziellen Tag der Deutschen Einheit, zweitens einen inoffiziellen Tag der Deutschen Einheit und drittens einen ziemlich unbekannten, aber symbolträchtigen Tag der Deutschen Einheit. Vielleicht kommt in Kürze ein weiterer symbolischer Einheitstag hinzu: Dann nämlich, wenn nach der Landtagswahl in Thüringen die CDU dort eine Zusammenarbeit mit der Linkspartei ins Auge fassen muss - weil das Wahlergebnis und die Verantwortung für das Land dies so gebieten.
Prantls Blick:Glanz und Elend der SPD
Vor genau dreißig Jahren wurde die Partei in der DDR wieder gegründet - als "Pfarrerpartei", wie manche sagten. Warum sie nicht so groß wurde, wie sie hätte werden können.
Der thüringische CDU-Vorsitzende Mike Mohring lehnt zwar derzeit jegliche Kooperation mit der regierenden Linkspartei, der früheren PDS, ab, wie dies der Generallinie der CDU seit der Wiedervereinigung entspricht. Eine solche Zusammenarbeit - entweder in einer Koalition mit der Linkspartei oder durch Duldung einer von der Linkspartei geführten Minderheitsregierung - könnte aber geboten sein, wenn die bisherige Dreierkoalition aus Linken, Sozialdemokraten und Grünen bei der Landtagswahl am 27. Oktober wegen der wachsenden Stärke der AfD die Regierungsmehrheit verfehlt. Derzeit sieht das so aus, obwohl die Linken mit ihrem Ministerpräsidenten Bodo Ramelow sehr ansehnlich dastehen, bei fast dreißig Prozent nämlich; dafür schwächelt aber die ohnehin schwache SPD.
Ein Bündnis von Linken und CDU wäre, dreißig Jahre nach dem Fall der Mauer, ein ganz neuer, ein symbolischer Akt - der vierte Tag der Deutschen Einheit. Richard von Weizsäcker, der verstorbene frühere Bundespräsident, hat ein solches Bündnis im kleinen Kreis gelegentlich als das Bündnis bezeichnet, in dem die deutsche Einheit sehr sinnfällig zum Ausdruck käme. Damals gab es freilich die AfD noch nicht, zu der heute viele frühere Wähler der PDS und der Linken abgewandert sind; man darf aber sicher sein, dass Weizsäcker jegliche Annäherung der CDU an eine rechtsradikale Partei mit allen Zeichen des heftigen Entsetzens abgelehnt hätte - noch dazu in Thüringen, wo ein Hitler-Verehrer namens Björn Höcke die AfD und ihren ultrarechten Flügel führt.
Weizsäckers Wonne
Der offizielle Tag der Deutschen Einheit ist bekanntlich der 3. Oktober, der Tag also, an dem im Jahr 1990 die DDR formell der Bundesrepublik beitrat. Der inoffizielle Tag der Deutschen Einheit ist der 9. November 1989, der Tag, an dem kurz vor Mitternacht die Mauer fiel. Und der unbekannte Tag der Einheit? Dieser unbekannte Tag der Deutschen Einheit ist der 11. November 1989. Richard von Weizsäcker, er ist im Jahr 2015 verstorben, hat davon, wenn er gut aufgelegt war, mit Wonne erzählt; und seine Stimme hat dabei dann vor Freude gegluckst.
Es ist dies die Geschichte vom symbolischen Vollzug der deutschen Einheit. Sie geht so: Bundespräsident Richard von Weizsäcker war in der Nacht, als die Mauer fiel, ziemlich weit weg von Berlin, nämlich in Tutzing am Starnberger See. Er eilte von dort nach Berlin. Am 11. November 1989 ging er zum Potsdamer Platz, zu dem Platz, der seit dem Mauerbau 1961 zur Einöde zwischen Ost und West verkommen war. Seit den Morgenstunden rissen dort DDR-Soldaten die Mauer auf und eröffneten einen neuen Grenzübergang von Ost- nach Westberlin. Weizsäcker ging auf die Soldaten zu, die hielten inne. Der Anführer der ostdeutschen Grenztruppen trat vor, nahm Haltung an, salutierte auf ostdeutschem Terrain vor dem westdeutschen Bundespräsidenten, nannte Namen und Dienstgrad und schnarrte: "Herr Bundespräsident. Ich melde: keine besonderen Vorkommnisse!"
Prantls Blick:Die zwei Seehofers
Gibt es einen Dr. Jekyll und einen Mr. Hyde an der Spitze des Bundesinnenministeriums? Die Zukunft des Kirchenasyls wird es zeigen.
Jeder Tag war in diesen Tagen ein besonderes Vorkommnis, jeder Tag historisch. Aber es war so, als hätte dieser Ost-Salut vor dem West-Bundespräsidenten schon all das vorweggenommen, was in den darauffolgenden Monaten geschah: Aus dem westdeutschen Bundespräsidenten wurde der gesamtdeutsche, aus einem geteilten Land wurde ein ganzes. Weizsäcker konnte diese Begebenheit am Potsdamer Platz mit schelmischem Vergnügen erzählen - nicht nur, weil ihm, wie er behauptete, von da an klar gewesen sei, dass die Einheit kommen werde; sein Vergnügen resultierte wohl auch daraus, dass ihm ein solches Einheitserlebnis einige Zeit vor Helmut Kohl zuteil wurde.
In die Verantwortung
Richard von Weizsäcker sagte dann vor mehr als zwanzig Jahren, dass die Linkspartei, die damals PDS hieß, "in die Verantwortung" müsse. Und er riet den ehemaligen Bürgerrechtlern der DDR, sich nicht exklusiv mit der Vergangenheit, sondern auch intensiv mit der Gegenwart zu beschäftigen und ihre Kraft nicht in Abgrenzung zur PDS zu verbrauchen.
In Sachsen-Anhalt, in Mecklenburg-Vorpommern, in Brandenburg und Berlin gab und gibt es Bündnisse der SPD mit PDS beziehungsweise Linkspartei. Ein Bündnis von CDU und Linkspartei gab es noch nicht. Es wäre ein Akt der deutschen Einheit - und der Enttabuisierung einer Partei, wie sie vor zwanzig Jahren schon Richard von Weizsäcker und Heiner Geißler vorgeschlagen haben. Damals war die Parteiführung der CDU deswegen pikiert und empört; sie inszenierte lieber Rote-Socken-Kampagnen. Die CDU sah in den Stimmen für PDS/Linke so etwas wie groben Undank: Wer so wähle, so hieß es, der verdiene das schwer erarbeitete westdeutsche Geld nicht. Das war ein ziemlich törichtes Denken und Reden. Vielleicht hat es dazu beigetragen, dass heute so viele mit braunen Socken herumlaufen.
Kann die CDU im deutschen Osten heute mit der Linken regieren? Vielleicht sollte sie es einfach probieren. Womöglich wird Thüringen der Ort dieses Experiments, schon deshalb, weil es kaum anders geht.