Klaus von Dohnanyi zur Sarrazin-Debatte:Feigheit vor dem Wort

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Nur in Deutschland macht man sich unmöglich, wenn man das Offensichtliche benennt. Reflexhaft ächtet die liberale Öffentlichkeit Sarrazin, obwohl die Gesellschaft eine faire Auseinandersetzung mit seinen Thesen bräuchte.

Klaus von Dohnanyi

Die Bundesbank konnte nicht anders; im Gegensatz zum Bundespräsidenten. Zögert er? Es wird schwer. Denn das Urteil über Thilo Sarrazin ist längst gefällt. Zwar nicht "Im Namen des Volkes", sondern von einer angeblich "liberalen" veröffentlichten Meinung. Es war Ächtung statt eines fairen Prozesses.

Was tun im Falle Sarrazin? Ruhe bewahren und Mut zur Debatte beweisen, meint Klaus von Dohnanyi. (Foto: dpa)

Der öffentliche Reflex erinnert an die beschämende Behandlung von Martin Walser, als sich 1998 nach seiner Rede zwar die Paulskirche zu Ovationen erhob, doch dieselbe, die Zivilcourage ständig beweihräuchernde Gesellschaft, war nicht mehr zu hören, als Ignatz Bubis, Vorsitzender des Zentralrats der Juden, gegen den Schriftsteller seinen Bannfluch "geistiger Brandstifter" ausgestoßen hatte.

Sarrazins Grundthese ist einfach

Die Bundesbank argumentiert, Sarrazin gefährde ihr Image. Dies ist unpräzise: Nicht Sarrazin, sondern der Tenor des veröffentlichten Urteils über Sarrazin verursacht diese Gefahr. Die Bundesbank hätte das Ausland nicht mehr vom Gegenteil überzeugen können. Das Urteil "Rassist", "Muslim-Feind" oder "Migrationsgegner" klebte schon zu fest. Und schließlich hatte der Biograph der Bundesbank, David Marsh, am Morgen der Vorstandssitzung den Rausschmiss in der Financial Times befürwortet. Hatte er das Buch gelesen? Kaum!

Im Falle eines Rausschmisses droht ein Prozess vor dem Bundesverfassungsgericht oder dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof. Ob der an Bundesbank (und Bundespräsident) so ganz ohne Beschädigung vorübergehen würde?

Was Rechtfertigung der Bundesbank sein konnte, ist unentschuldbar für die SPD. Sie hatte den erfolgreichen Berliner Finanzsenator in den Bundesbankvorstand gehievt, auch, um einen störrischen Mahner loszuwerden. Sie kennt ihn als nervigen Kollegen, mit Parteiraison schwer zu bremsen; aber auch als loyalen und demokratischen Genossen.

Ist sein Buch jetzt das "Outing" eines Rassisten und Rechtsradikalen? Nein. Sarrazins Grundthese ist einfach. Er ist der Auffassung - und begründet das sehr ausführlich -, dass Deutschland Gefahr läuft, seine geistigen Eliten einzuschmelzen, weil diese selbst zu wenige Kinder bekommen, während Gruppen, die sich bisher nicht durch Arbeit und Leistung hervorgetan haben (manche Deutsche oder Teile von Migranten) mehr Kinder bekommen und so das Leistungsniveau der Nation langfristig absenken könnten.

Sarrazins Behauptung, dass es besondere, kulturelle Eigenschaften von Volksgruppen gibt, kann heute niemand mehr mit Sachkenntnis bestreiten. Die amerikanische Enzyklopädie der Sozialwissenschaften nennt das social race: "soziale Rasse". Sarrazin sieht nun bei Teilen islamischer Gruppen eine Ablehnung der Integration und darin Gefahren für unsere Bildungs- und Leistungsgesellschaft. Integration sei auch eine "Bringschuld". Falsch?

Sarrazin hat für seine Thesen auch "biologische" Argumente angeführt. Er beruft sich auf eine gewisse Vererblichkeit von Intelligenz. Falsch? Er meint, dass sich das unzureichende Bemühen einer Volksgruppe (oder einer sozialen Gemeinschaft) um Bildung und Erfolgsstreben langfristig auf das messbare Intelligenzniveau dieser Gruppierungen auswirken kann. Und in einem Interview, nach eventuell genetischen Anteilen der Intelligenzvererbung gefragt, meinte er unter Hinweis auf wissenschaftliche Veröffentlichungen in den USA - inzwischen zu seinem eigenen Bedauern -, dass auch die Juden (die in seinem Buch nur Bewunderung wegen ihrer Intelligenz erfahren) vermutlich eine etwas andere (also überlegene) Genstruktur aufweisen könnten. Rassismus?

Was ist hier rassistisch?

Seine zentrale Kritik an einem Teil sesshafter muslimischer Zuwanderer in Deutschland richtet sich aber weder auf deren (unbekannten) individuellen Intelligenzquotienten noch auf deren islamische Religion. Er zielt vielmehr auf die Weigerung dieses Teils der Migranten, ihre Kinder zum Deutschlernen, zum Bildungswillen und einer offenen Integrationsbereitschaft zu erziehen. Das, allerdings, sind - immer nur auf Teilgruppen türkisch-arabischer Migranten bezogen - inzwischen allgemein bedauerte Gegebenheiten, denen sich leider auch die islamischen Verbände zu wenig mutig entgegenstellen. Auch sie wollen vermutlich wiedergewählt werden! Wenn aber heute mancher Grüne Krokodilstränen über die unzureichende Integration weint, sollte man sich erinnern, dass einst die Pflicht zum Deutschlernen als "Zwangsgermanisierung" verhöhnt wurde.

Manchmal ist es nützlich, die Zusammenfassung eines faktenreichen Buches zu lesen. Ich kann sie hier nur verkürzt wiedergeben. Mit Lenin'scher Klarheit "Was tun" heißt es dort auf Seite 326: 1. Jeder ist willkommen, der bereit ist, Deutsch zu lernen, zu arbeiten, Bildungsehrgeiz zu entfalten und sich Sitten und Gebräuchen anzupassen. 2. Man sollte mindestens für die Kinder anstreben, Deutsche zu werden. 3. Muslime, Heiden oder Christen haben dieselben Rechte und Pflichten. 4. Wer will, dass er und seine Kinder Türken oder Araber bleiben, wäre im Herkunftsland besser aufgehoben; wir wollen keine nationalen Minderheiten (andere sagen: "Parallelgesellschaften"). Wer nur am deutschen Sozialstaat interessiert ist, ist nicht willkommen. So weit Sarrazin und gängige Praxis in anderen Ländern. Hier soll das alles falsch sein? Alles "rassistisch"

"Bitte keine Feigheit vor Worten wie Rasse, Juden, Muslime."

Warum die ganze Aufregung? Ich muss noch einmal auf den Fall Walser zurückkommen. Das Verbrechen und Deutschlands große Schuld des Holocaust haben bei uns zunächst Verdrängung und dann eine Vielzahl von Tabus (genannt "politische Korrektheit") bewirkt. Im Schatten unserer Geschichte und eines oft allzu einseitigen Bildes unserer Selbst scheuen wir uns vor Debatten und Worten, die bei anderen Völkern gang und gäbe sind. So aber kann eine Gesellschaft den Herausforderungen der Gegenwart kaum begegnen. Also bitte keine Feigheit mehr vor Worten wie Rasse, Juden, Muslime. Es gibt sie. Man darf über sie nachdenken, man darf sie benutzen. Nicht gedankenfeige sein! Aber nie rassistisch!

Aus keiner europäischen Linkspartei würde Sarrazin wegen dieses Buches ausgeschlossen. Wenn die SPD ihn ausschließen will, stehe ich bereit, ihn vor der Schiedskommission zu verteidigen. Einen fairen Prozess wird es ja wohl noch geben. Das Wichtigste, sagte Willy Brandt in einer seiner letzten Reden, sei ihm immer die Freiheit gewesen. Er fügte hinzu: "Ohne Wenn und Aber."

Klaus von Dohnanyi (SPD), 82, Jurist, ehemaliger Bundesbildungsminister, von 1981 bis 1988 Erster Bürgermeister von Hamburg.

© SZ vom 06.09.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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