Corona:Höchste Zeit für parlamentarischen Streit

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Stunde der Exekutive: Angela Merkel im März im Kanzleramt. Nun aber ist es höchste Zeit, dass das ganze Parlament seine Rechte mit Selbstbewusstsein wahrnimmt. (Foto: AFP)

Der politische Ausnahmezustand schadet dem Ansehen der Demokratie. Am Zug ist nun der Bundestag: Die Fraktionen müssen selbstbewusster werden und kontrovers debattieren.

Kommentar von Jens Schneider

Es gab ein kurzes Zeitfenster im Frühjahr, zu Beginn der Corona-Pandemie, da ließen die Gefahren keine langen Debatten zu. Es kam nicht auf Stunden, aber doch auf Tage an. Es musste schnell entschieden werden, die Kontakte der Bürger so radikal wie möglich zu reduzieren, um die exponentielle Ausbreitung des Virus zu stoppen. Die Einschnitte haben mit hoher Wahrscheinlichkeit viele Leben gerettet. Auch Politiker der Opposition im Bundestag erklärten in jenen Tagen, dass so eine Krisensituation die Stunde der Exekutive sei. Nun aber ist es höchste Zeit, dass die Opposition und unbedingt auch die starken Regierungsfraktionen im Bundestag - dass das ganze Parlament also seine Rechte mit Selbstbewusstsein wahrnimmt.

Es ist die Aufgabe der Parlamentarier, dafür zu sorgen, dass in den nächsten Wochen und Monaten nicht ohne Widerspruch und ohne Debatten durchregiert wird. Auf die im Notfall ausgerufene Stunde der Exekutive sollten im Bundestag und den Länderparlamenten viele Stunden der Demokratie im Umgang mit der Pandemie folgen. Der politische Ausnahmezustand ist nicht gut für das Ansehen der Demokratie, weil sie ihrer Stärken beraubt wird. Gründliche Debatten, unterstützt von kundigen Experten in Ausschüssen, sind der beste Weg, damit gut entschieden wird und diese Entscheidungen von den Bürgern angenommen werden.

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Die Regierung entscheide über Einschränkungen des täglichen Lebens der Bürger und stelle die Parlamente vor vollendete Tatsachen, beklagt die FDP. Die Linke sieht eine "Verselbstständigung der Exekutive".

Von Daniel Brössler und Boris Herrmann

Zwar warnen Ungeduldige wie der bayerische Ministerpräsident Markus Söder, dass man gerade wieder schnell entscheiden müsse. Und richtig, die Infektionslage verschlimmert sich. Es gibt Gründe, alarmiert zu sein. Aber es ist falsch, in Alarmismus zu verfallen, der die Leute ermüdet. Auch wenn es Ausnahmen geben mag, sollte die Zeit der unvorbereiteten, eiligen Entscheidungen vorbei sein.

Söder hat sich zu einer Art Superspreader für allzu schnelle Ideen entwickelt. Schon damit liefert er selbst täglich neue Belege, wie notwendig für unruhige Regierungschefs eine stärkere Kontrolle sein kann. Er wirkt allzu verliebt in die Idee, sich als eine Art Deichgraf in der Not für höhere Aufgaben zu empfehlen. Dabei lädt die traurige Corona-Bilanz in Bayern mit vergleichsweise vielen Infektionen und Toten nicht dazu ein, sich Rat von ihm zu wünschen. So falsch es sein dürfte, ihm diese Bilanz anzulasten, so unangebracht waren seine Belehrungen gegenüber anderen. Diese Krise ruft nicht nach vermeintlichen politischen Helden, die je nach politischer Tageslage einen Alleingang im föderalen System verkünden oder - wie Söder es jetzt tat - ein Stück Föderalismus zur Disposition stellen.

Es ist das Verdienst des Föderalismus, dass unterschiedliche Wege aufgezeigt wurden

Tatsächlich hat sich der Föderalismus in der Corona-Krise bewährt, auch wenn das letzte Zusammentreffen der Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten mit der Kanzlerin kein überzeugendes Ergebnis brachte. Selbst für jene stundenlange Sitzung der Regierungschefs galt, dass sie die unterschiedlichen Problemlagen in Berlin, Düsseldorf, Magdeburg oder Vorpommern widerspiegelte. Das war gut. Schlecht ist nur, wenn sich die Länderchefs verzetteln und in Konflikten, etwa um das Beherbergungsverbot, verkämpfen, die für die Eindämmung der Pandemie nebensächlich sind.

Ihr Verdienst ist aber, dass es in den vergangenen Monaten Debatten über verschiedene Wege zur Eindämmung des Virus gab und dass in den Ländern unterschiedliche Wege probiert wurden - was angesichts der fehlenden Erfahrungen mit der Pandemie von großem Nutzen war. Sie haben das Bewusstsein dafür geschärft, dass es gut ist, Alternativen zu diskutieren. In diesem Sinne war es auch hilfreich, dass sich die Länder Expertise von unterschiedlichen Fachleuten holten - solange am Ende eine gemeinsame Grundlinie stand und nicht, wie zuletzt, Kakofonie.

Der Streit der Länder hat für einige Wochen dazu beigetragen, dass nötige Debatten etwa über die Einschränkung der Reisefreizügigkeit immerhin geführt wurden. Der Bundestag dagegen wirkte unsortiert, die Fraktionen und Abgeordneten fanden ihre Rolle nicht. In den vergangenen Monaten zeigte sich, wie fatal es sein kann, wenn die AfD als größte Oppositionspartei im Bundestag sitzt. Die zutiefst zerrüttete Fraktion kann mit ihrer radikalen und inhaltlich oft abseitigen Haltung ihre Aufgabe nicht erfüllen.

Die anderen Fraktionen suchten lange nach einem neuen Selbstverständnis als Antwort auf die Pandemie, hin und her gerissen zwischen der Unterstützung notwendiger Entscheidungen und wichtigen Einwänden. Da half es nicht, wenn FDP-Chef Lindner gelegentlich ausrief, nun aber nicht mehr alles mitzumachen. Jetzt machen seine Fraktion, aber auch die Grünen und die Linken konkrete Vorschläge. Sie nehmen ihre Rechte wahr, und viele Bürger dürften dankbar reagieren.

Ein sehr wichtiger Anlass für eine grundlegende Debatte könnte bald das Ringen um die Sonderrechte des Gesundheitsministers durch das Infektionsschutzgesetz sein. Es ist die Aufgabe des Parlaments, zu entscheiden, wie weit Einschränkungen gehen sollen - und wo es Grenzen geben muss.

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