EU-Gipfel in Porto:Europas Unmut über Bidens PR-Trick  

Lesezeit: 4 min

Portugals Regierungschef Costa, EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen und Ratspräsident Michel (von links) beim Gipfel in Porto. (Foto: AFP)

Die Staats- und Regierungschefs sehen in der Freigabe von Impfstoff-Patenten keine "Wunderlösung". Kanzlerin Merkel fordert, dass Exporte von Corona-Vakzinen zum "Regelfall" werden müssen - ein klarer Seitenhieb gegen USA und Großbritannien.

Von Matthias Kolb, Brüssel

Über die Hintergründe des Vorstoßes von US-Präsident Joe Biden zur Freigabe von Patenten für Covid-19-Impfstoffe wollte Angela Merkel nicht spekulieren. "Nach der Erklärung für die amerikanische Position müssen Sie die Amerikaner fragen", sagte die Bundeskanzlerin in ihrer Pressekonferenz nach dem informellen EU-Gipfel, an dem sie nur virtuell teilgenommen hatte.

Die Europäische Union liefere seit Monaten "einen großen Teil" der in Europa hergestellten Vakzine in alle Welt, und sie wünsche sich, dass der Austausch von Komponenten und der Export von Impfstoffen nun "zum Regelfall" werde, sagte Merkel kühl. Dass damit vor allem Joe Biden und Boris Johnson gemeint sind, ist klar: Gerade die USA und auch Großbritannien haben ihre Produktion an Vakzinen vor allem selbst verimpft.

Coronavirus
:Patente allein reichen nicht, um alle zu impfen

Die Freigabe von Patenten auf Impfstoffe wird hitzig diskutiert. Dabei gäbe es Alternativen, um ärmeren Ländern zu helfen.

Von Elisabeth Dostert

Ähnlich klar äußerten sich ganz im Westen Europas Ursula von der Leyen und Charles Michel. "Wir denken nicht, dass das kurzfristig eine Wunderlösung ist", sagte der EU-Ratspräsident. Man könne diskutieren, sobald ein konkreter Vorschlag auf dem Tisch liege, sagt Michel. Dies soll die Aufmerksamkeit darauf lenken, dass Biden keine Details genannt hat, wie eine solche Freigabe in der Welthandelsorganisation WTO ausgehandelt werden sollte. Auch wenn die Chefin der EU-Kommission "Offenheit" signalisierte, so drängte von der Leyen auf mehr Ausfuhren: "Wir laden alle, die sich an der Debatte über die Freigabe beteiligen, dazu ein, sich wie wir zu verpflichten, einen Großteil ihrer Produktion zu exportieren." Die EU sei "die Apotheke der Welt" und habe die Hälfte der 400 Millionen hergestellten Dosen ausgeliefert, so von der Leyen.

Grünes Impfzertifikat soll im Juni kommen

Eigentlich wollten die Staats- und Regierungschefs, die Portugals Premier Antonio Costa nach Porto eingeladen hatte, über Sozialpolitik und engere Beziehungen zu Indien sprechen. Natürlich war vorab klar, dass man über die weitere Beschaffung von Corona-Impfstoffen reden würde und auch über das Grüne Impfzertifikat, das künftig Urlaube ermöglichen soll. Aber Bidens Vorschlag, der die EU am Mittwochabend ohne Vorwarnung traf, wurde zum wichtigsten Thema am Freitagabend, denn er macht die EU zum Buhmann. Auch Papst Franziskus begrüßt den Vorstoß aus Washington.

Bei seiner Ankunft kritisierte auch Frankreichs Präsident Emmanuel Macron Briten und Amerikaner scharf: "Heute blockieren die Angelsachsen den Export vieler Komponenten und Impfstoffe." Italiens Premier Mario Draghi forderte Biden ebenfalls auf, mehr zu exportieren. Auch wenn sich etwa Polen und Spanien offen für die Freigabe zeigten, herrschte intern Konsens darüber, dass Biden hier ein PR-Trick gelungen sei. Die Leaders seien sich einig, dass so weder kurz- noch mittelfristig die Pandemie eingedämmt werden würde, hieß es.

Merkel setzt auf "Innovationskraft und Kreativität" der Unternehmen

In ihrer Wortmeldung sagte Merkel am Freitag, dass es niemand wollen könne, wenn China die moderne, im Westen von Biontech und Moderna entwickelte mRNA-Technik erhalte. Anders als afrikanische Länder verfüge nämlich die Volksrepublik über entsprechende Produktionskapazitäten. Ähnliche Sorgen werden hinter vorgehaltener Hand auch in Brüssel geäußert - schließlich soll mRNA im Kampf gegen Krebs helfen.

Dieses Argument wiederholte die Kanzlerin vor Journalisten in Berlin nicht. Sie sagte erneut, dass sie nicht glaube, "dass die Freigabe von Patenten die Lösung ist, um mehr Menschen Impfstoff zur Verfügung zu stellen". Gebraucht würden die "Innovationskraft und Kreativität" der Unternehmen, denn das Problem sei nicht, "dass jemand auf seinem Patent sitzt und mit dem nichts macht und nichts produziert". Es gehe auch darum, möglichst hochwertigen Impfstoff herzustellen - und wenn die Qualität nicht jedes Mal gut kontrolliert werden könne, sehe sie "mehr Risiken als Chancen". Merkel plädierte dafür, die Produktionskapazität zu erhöhen und Lizenzen zu vergeben.

Am Samstag wandte sich der Mainzer Hersteller Biontech mit ähnlichen Argumenten gegen die Patentfreigabe, bot aber Preisvorteile für arme Länder an. Diese würden "zu einem nicht gewinnorientierten Preis" versorgt, versicherte eine Sprecherin. Patente seien "nicht der begrenzende Faktor für die Produktion oder Versorgung mit unserem Impfstoff". Für die EU-Kommission kündigte Ursula von der Leyen Unterstützung beim Aufbau von Impfstoff-Fabriken an, etwa in afrikanischen Ländern.

Neuer EU-Vertrag über 1,8 Milliarden Biontech-Impfdosen

An der Seite von Costa und Michel gab von der Leyen bekannt, dass der Vertrag mit den Herstellern Biontech und Pfizer über bis zu 1,8 Milliarden weitere Impfdosen unterschrieben worden sei. Damit könne man bald auch Kinder und Jugendliche impfen und eventuell nötige "Booster"-Impfungen durchführen, falls gefährliche Varianten auftreten oder die Wirkung nachlasse. Von der Leyen betonte, dass es die Verträge auch erlauben würden, Vakzine an Partner zu spenden - etwa für die Länder auf dem Westbalkan.

Sie zeigte sich auch zuversichtlich, dass das Grüne Impfzertifikat zum vereinfachten Reisen pünktlich im Juni startet. Die technischen und rechtlichen Vorbereitungen lägen im Plan. Angestrebt wird ein fälschungssicherer Nachweis einer Impfung, einer überstandenen Covid-Erkrankung oder eines negativen Tests. Die CDU-Politikerin bekräftigte zudem, dass bis Juli wie geplant 70 Prozent der Erwachsenen in der EU immunisiert werden könnten. Bisher hätten fast 160 Millionen Europäer eine erste Impfdosis bekommen.

Portugal, das noch bis Ende Juni die rotierende Ratspräsidentschaft innehat, ist eines der wenigen EU-Länder, die von einem Sozialdemokraten regiert werden. Premier Costa hatte die Stärkung sozialer Rechte zum Hauptthema des Gipfels in seiner Heimat machen wollen - und drängte auf das Bekenntnis zu einem gerechten Aufschwung mit guten Jobs, wenn die Corona-Krise überwunden ist. Dazu hatten die EU-Staaten am Freitag mit Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden eine Verpflichtungserklärung unterzeichnet. Diese enthält konkrete Ziele, um die soziale Lage bis 2030 spürbar zu verbessern. Die Beschäftigungsquote soll steigen, mehr Arbeitnehmer sollen fortgebildet und Armut soll reduziert werden. In einer "Erklärung von Porto" drückten die Staats- und Regierungschefs grundsätzlich ihre Unterstützung aus.

Am Samstagnachmittag schalteten sich die Staats- und Regierungschefs per Video mit dem indischen Ministerpräsidenten Narendra Modi zusammen. Wie erwartet wurde der Neustart von Verhandlungen über ein Handels- und Investitionsschutzabkommen vereinbart. Entsprechende Gespräche waren 2013 ausgesetzt worden, nachdem Indien der EU nicht den gewünschten Marktzugang für Autoteile gewähren wollte. Wegen des Aufstieg Chinas sind beide Seiten an einer engeren Partnerschaft interessiert.

SZ-Podcast "Auf den Punkt"
:Statt Patent-Freigabe: Ein Marshallplan fürs Impfen

Die Wende der USA bei den Impfstoff-Patenten sorgt für Druck. Warum eine andere Idee sinnvoller ist.

Von Marc Beise und Lars Langenau

Zudem sagte die EU den Schulterschluss mit Indien im Kampf gegen Covid-19 zu, wie Ratschef Michel sagte. Denn die Corona-Lage in Indien ist weiter dramatisch. Am Samstag meldeten die Behörden erstmals mehr als 4000 Corona-Tote innerhalb von 24 Stunden und mehr als 400 000 Ansteckungen.

Ein weiteres Thema in Porto waren die EU-Beziehungen zu Russland. Tschechiens Ministerpräsident Andrej Babiš forderte die übrigen EU-Staaten auf, "die Ausweisung von zumindest einem russischen Diplomaten" zu erwägen. Bisher haben dies nur Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Bulgarien sowie die Slowakei getan. Nach der Überzeugung Prags sollen russische Agenten 2014 in die Explosion eines Munitionslagers mit zwei Todesopfern in Tschechien verwickelt gewesen sein. Moskau bestreitet dies. Ob und wie die EU auf das immer autoritärere Vorgehen Russlands und die Niederschlagung der Opposition reagieren soll, werden die Staats- und Regierungschefs bei einem Sondergipfel am 25. Mai diskutieren.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusDebatte um Zwangslizenzen
:Tauziehen um den Impfstoff

Sollen die Patente für die Corona-Vakzine freigegeben werden? Der Vorstoß von US-Präsident Joe Biden wird weltweit kontrovers diskutiert. Wer gewinnt, wer verliert und was es bringt - ein Faktencheck.

Von Marc Beise, Elisabeth Dostert, Alexander Hagelüken und Hans von der Hagen

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: