Politik in China:Undurchschaubar und zu jeder Zeit unberechenbar

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Qin Gang, bis vor Kurzem noch Chinas Außenminister, könnte krank sein - oder aber er ist bei der Führungsspitze des Landes in Ungnade gefallen. (Foto: Mark Schiefelbein/dpa)

Peking hat mit Wang Yi einen neuen Außenminister, doch vier Wochen nach dem Verschwinden seines Vorgängers bleiben Fragen. Warum sagt die Regierung nicht, wo Qin Gang ist? Der Fall verrät viel über das politische China.

Von Lea Sahay, Peking

Die Sache schien klar zu sein: Der Ständige Ausschuss des Volkskongresses hat den chinesischen Außenminister Qin Gang am Dienstag aus dem Amt entfernt. Wenige Stunden später waren auf der Seite des Außenministeriums sämtliche Hinweise auf den einstigen Minister und Botschafter in den USA gelöscht.

Selbst alte Pressemitteilungen über Treffen mit Vertretern anderer Länder fehlten. Nur sieben Monate nach seiner Ernennung im Dezember 2022 schien der einstige Protegé von Parteichef Xi Jinping in Ungnade gefallen zu sein.

Aber nicht so schnell, merkten einige China-Experten kurz darauf an. Wird Qin Gang nicht weiterhin als Mitglied des Staatsrats geführt? Und als Parteimitglied! Und was war die Formulierung noch mal: Entfernt oder entlassen? Schon ruderten die ersten Beobachter zurück, vielleicht handele es sich doch um einen schweren Krankheitsfall. Unser Mitgefühl in diesem Fall und eine schnelle Genesung.

Eine der Herrschaftssäulen, auf die Peking seine Macht stützt, ist Angst

Sicher ist vor allem eines: Wenn die Amtsenthebung am Dienstagabend der Versuch der chinesischen Regierung war, andere Länder zu beruhigen, dürfte dieser gescheitert sein. Weiterhin ist unklar, wo sich Qin Gang aufhält, der noch im Mai zu einem Treffen mit Annalena Baerbock nach Berlin gereist war.

Gerade bemüht sich das Land, nach drei Jahren Corona-Isolation die angeschlagenen Beziehungen mit vielen Teilen der Welt zu reparieren. Zu Hause wirbt die Führung um das Vertrauen ausländischer Unternehmen, von denen sich viele entsetzt gezeigt hatten über Pekings rigoroses Durchgreifen im Zuge seiner Null-Covid-Politik. Der Fall Qin Gang erinnert sie erneut daran, dass sie es in Peking mit einem Akteur zu tun haben, dessen Handeln größtenteils undurchschaubar, zuweilen chaotisch und zu jeder Zeit unberechenbar bleibt.

Anstelle von Qin Gang übernimmt zwar nun erneut sein Vorgänger Wang Yi, der die Volksrepublik als außenpolitischer KP-Vertreter bereits nach außen repräsentiert. Eine Sache sollte Qin Gangs Verschwinden aber deutlich gemacht haben: Auch Wang Yi ist nur Außenminister auf Zeit - eben bis zu diesem Moment, wenn sich die Machtinteressen der Führungsspitze erneut verschieben. Auf einen Abschiedsgruß sollte die Welt dann lieber nicht warten.

Angst ist eine der Herrschaftssäulen, auf die Peking seine Macht stützt. Parteichef Xi Jinping hat dieses System aus Überwachung und Paranoia sogar noch verstärkt. Niemand ist sicher, egal, wie weit oben die Person im Parteisystem steht: Das ist die zentrale Botschaft, die sich nach mehr als 70 Jahren KP-Herrschaft so tief in die Köpfe der Menschen eingebrannt hat, dass die Führungsriege im vergangenen Jahr ein Covid-Regime durchprügeln konnte, dessen Regeln sich mit Logik nicht mehr erklären ließen.

Dazu kommt, dass Xi sich selbst vor allem mit Loyalisten umgibt. Männer, die ihm aus politischen oder persönlichen Gründen nahestehen. Qin Gang ermöglichte diese Politik einen fast kometenhaften Aufstieg.

Es besteht der Verdacht, dass ein geheimes Disziplinarverfahren gegen Qin Gang läuft

Dass der verschwundene Qin erkrankt ist, ist zwar zu diesem Zeitpunkt nicht komplett auszuschließen. Das wäre aber fast noch schlimmer, immerhin würde das bedeuten, dass Peking selbst in normalen Zeiten nicht in der Lage ist, einen geordneten Amtswechsel vorzunehmen. Und das, obwohl eine Erkrankung nicht mehr auslösen würde als weltweite Anteilnahme.

Wahrscheinlicher ist hingegen, dass im Hintergrund bereits ein geheimes Disziplinarverfahren gegen den Topdiplomaten läuft, von dem nur sehr wenige wissen. Dies könnte auch erklären, warum seit Bekanntwerden seiner Entlassung anscheinend Chaos herrscht: Seit Wochen war das chinesische Außenministerium ohne Führung, seine Sprecher wirkten bei den täglichen Pressekonferenzen zuletzt eher hilflos als verschwiegen. Es ist keinesfalls klar, ob sie zu jener Zeit mehr Informationen vorliegen hatten als die Journalisten, die sie nach dem Status ihres Chefs befragten.

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Am Mittwoch kippte die Pressekonferenz im Außenministerium fast ins Lächerliche, als die Sprecherin immer wieder nur ausweichend auf die einfache Frage reagieren konnte: Wo ist Qin Gang? Sie muss sich wie bei einer Abschlussprüfung in der Schule gefühlt haben, spotteten einige Chinesen im Netz.

Dennoch ist die Änderung einer Internetseite eine Entscheidung, für die zwangsläufig jemand Verantwortung übernehmen muss. Wer trifft diese? Das politische System lebt davon, dass niemand die Spielregeln genau kennt. Auch seine Akteure nicht.

Klarer ist hingegen, was Qin Gang bei einem Disziplinarverfahren drohen könnte. Bei solchen parteiinternen Säuberungen verschwinden Kader zum Teil für Monate oder Jahre, um dann wegen Korruptionsverdachts oder anderer Vorwürfe vor Gericht gestellt zu werden. So lange werden die Verdächtigen an geheimen Orten verhört und ohne Zugang zu Anwälten oder Familie zu Geständnissen gezwungen.

Wang Yi dürfte in seiner neuen Rolle nun versuchen, den Eindruck von Kontinuität zu vermitteln: Dabei kann er nach zehn Jahren als Außenminister auf ein weitreichendes Netzwerk zurückgreifen, das er auch als außenpolitischer Vertreter der KP weiter pflegte. Eine Priorität dürften dabei die Beziehungen zu den USA bleiben. Nach monatelangem Schweigen war es in den vergangenen Wochen nicht zuletzt mithilfe von Qin Gang möglich gewesen, wieder direkte Gespräche zwischen den beiden Großmächten in Gang zu bringen.

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