Krebsmedikamente:Kritik an mutmaßlicher Milliardenverschwendung

Lesezeit: 3 min

Apotheker bei der Herstellung einer Infusion für die Chemotherapie. (Foto: Florian Peljak)

Mehrere große Krankenkassen fordern neue Gesetze für die Abrechnung von Krebsmedikamenten. Recherchen von Süddeutscher Zeitung, NDR und WDR hatten hohe Zusatzgewinne von Apotheken aufgedeckt, die Infusionen für Chemotherapien zubereiten. Es fehlt an Transparenz.

Von Christoph Cadenbach, Daniel Drepper und Markus Grill, Berlin

Es geht um rund 500 Millionen Euro Beitragsgelder jedes Jahr. So viel hätten die gesetzlichen Krankenkassen zumindest 2021 und 2022 nach Recherchen von Süddeutscher Zeitung, NDR und WDR jeweils einsparen können. Die SZ und ihre Partner hatten Einblick in mehrere Preislisten von Pharmagroßhändlern, die Medikamente für Chemotherapien anbieten. Die Listen zeigen, wie viel Geld Apotheken mit dem Einkauf und der Abrechnung dieser Wirkstoffe verdienen können, weil die Kassen oft mehr erstatten, als die Apotheker bezahlt haben.

Bei Chemotherapien werden meist Infusionen verabreicht, die Infusionsbeutel mit den Wirkstoffen - sogenannte Zytostatika und monoklonale Antikörper - müssen für jede Patientin und jeden Patienten individuell zubereitet werden. Die Apotheken erhalten für diese Arbeit eine Pauschale von 100 Euro pro Infusion von den Kassen. Damit sollten eigentlich ihre Kosten gedeckt und ein Gewinn erzielt sein. Tatsächlich können sie aber, wie die Recherche gezeigt hat, Hunderte, in Einzelfällen auch Tausende Euro pro Beutel hinzuverdienen - durch den günstigen Einkauf der Wirkstoffe und die anschließende Abrechnung mit den Kassen zu oft höheren Preisen.

Süddeutsche Zeitung, NDR und WDR hatten die Preislisten an sämtliche gesetzliche Krankenkassen geschickt, damit die sich ein Bild von möglichen Einkaufsvorteilen der Apotheken machen können. Einige Kassen reagierten nun: "Nach unserer Auffassung muss hier der Gesetzgeber Abhilfe schaffen", schreibt beispielsweise die IKK Brandenburg und Berlin. "Apotheken sollten per Gesetz verpflichtet werden, ihre Einkaufspreise offenzulegen und insgesamt für mehr Transparenz zu sorgen."

"Voll auf Kosten der Beitragszahler"

Das Problem für die Kassen: Sie rechnen die Wirkstoffe zu Festpreisen ab, der sogenannten Hilfstaxe. Diese handelt der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkasse (GKV) mit dem Deutschen Apotheker Verband (DAV) aus.

Die Techniker Krankenkasse fordert nun, selbst aktiv werden zu dürfen: Es sollten Rabattverträge zugelassen werden, die von den Kassen mit den Herstellern der Wirkstoffe, den Pharmafirmen also, geschlossen werden können. Der AOK-Bundesverband kritisiert, dass die überhöhten Erstattungsbeträge "voll auf Kosten der Beitragszahlenden" gingen. Krebsmedikamente sollten wieder regional ausgeschrieben werden dürfen. "Schon vor Jahren ging es um Einsparungen in Höhe von mindestens 600 Millionen Euro pro Jahr für die gesamte Gesetzliche Krankenversicherung."

Für die eigene Berechnung des möglichen Einsparpotentials - die 500 Millionen Euro im Jahr - haben Süddeutsche Zeitung, NDR und WDR nur die fünf umsatzstärksten Wirkstoffe in den Blick genommen, die im Rahmen von Chemotherapien verabreicht werden, und die nicht mehr patentgeschützt sind. 2021 waren das:

- Bevacizumab (vor allem gegen Darmkrebs)

- Trastuzumab (gegen Brustkrebs)

- Rituximab (vor allem gegen Krebs im lymphatischen System)

- Paclitaxel (unter anderem gegen Lungenkrebs)

- Pemetrexed (gegen Lungenkrebs)

Allein für diese fünf Wirkstoffe gaben die gesetzlichen Krankenkassen 2021 etwa 850 Millionen Euro im ambulanten Bereich aus. Die Zahlen werden jedes Jahr vom GKV-Spitzenverband in den sogenannten GAmSi-Berichten veröffentlicht.

550 Millionen Euro mögliches Einsparpotenzial allein im Jahr 2021

Die möglichen Einkaufspreise der Apotheken entnahmen die Recherchepartner einer Großhändler-Preisliste von 2021. Dabei orientierten sie sich am Preis des zweitgünstigsten Herstellers eines Wirkstoffs (die Preise der Hersteller unterscheiden sich in der Regel kaum). Die Differenz zwischen Einkaufspreis und Erstattungsbetrag wurde dann auf die Gesamtausgaben der gesetzlichen Krankenkassen für diesen Wirkstoff übertragen.

Beispiel Bevacizumab: Eine 400 Milligramm Packung des zweitgünstigsten Herstellers kostete 2021 beim Großhändler 390 Euro. Die Kassen erstatteten der Apotheke für diese Packung rund 1108 Euro, ein Zusatzgewinn von 718 Euro pro Packung für die Apotheke. Rund 65 Prozent des Erstattungsbetrags waren also ein Zusatzgewinn. Diese 65 Prozent hätten die Kassen demnach sparen können.

Für die Gesamtausgaben der Kassen für den Wirkstoff Bevacizumab 2021 bedeutet das: Von den rund 322 Millionen Euro hätten - theoretisch - 209 Millionen Euro eingespart werden können.

Insgesamt ergibt sich so ein mögliches Einsparpotential von rund 550 Millionen Euro für die fünf Wirkstoffe für 2021. Im Jahr 2022 waren es etwa 130 Millionen Euro weniger, weil sich die Erstattungsbeträge für die Wirkstoffe manchmal ändern (so geschehen im September 2022 bei Bevacizumab, Trastuzumab und Rituximab).

Newsletter abonnieren
:SZ am Sonntag-Newsletter

Unsere besten Texte der Woche in Ihrem Postfach: Lesen Sie den 'SZ am Sonntag'-Newsletter mit den SZ-Plus-Empfehlungen der Redaktion - überraschend, unterhaltsam, tiefgründig. Kostenlos anmelden.

Süddeutsche Zeitung, NDR und WDR haben ihre Berechnungen im Detail einer großen gesetzlichen Krankenkasse vorgelegt. Die Experten dort halten den Rechenweg für plausibel.

Der Verband der Zytostatika herstellenden Apothekerinnen und Apotheker hatte die Berechnungen der SZ und ihrer Partner nach der Veröffentlichung als unzutreffend bezeichnet. Die im Beitrag genannte Zahl von 500 Millionen Euro sei "falsch", weil das "Marktvolumen" von "Infusionstherapien", mit denen Apotheken hinzuverdienen können, insgesamt bloß bei 460 Millionen Euro jährlich liege, heißt es in einer Stellungnahme. Woher der VZA diese Zahl nimmt, ist unklar. Auf eine Anfrage von Süddeutscher Zeitung, NDR und WDR reagierte der VZA nicht.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusExklusivKrebskartell
:Die dunklen Geschäfte mit Chemo-Medikamenten

Für Patienten geht es bei einer Krebstherapie um Leben und Tod. Für Apotheker geht es um viel Geld. Zu viel Geld. Über ein krankes Milliardengeschäft.

Von Christoph Cadenbach, Daniel Drepper, Markus Grill (Text) und Florian Peljak (Fotos)

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: