Flüchtlingspolitik:"Wenn es wichtig ist, dann muss man kämpfen"

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Die CDU stellt sich hinter die Kanzlerin. Vergeblich hatten die Christdemokraten gehofft, Seehofer noch umzustimmen. Was seine Rücktrittsankündigung bedeutet, ist auch nach Mitternacht noch unklar.

Von Robert Roßmann

Zum Wohlsein! Angela Merkel und Horst Seehofer am Samstagabend auf dem Balkon des Kanzleramts. (Foto: Paul Zinken/AFP)

Wie kritisch die Lage in der CDU ist, kann man ziemlich gut daran erkennen, wie viele Präsidiumsmitglieder sich vor einer Sitzung äußern. Wenn fast alle schweigen, brennt die Hütte. Am Sonntag schweigen fast alle. Einer der wenigen, die etwas sagen, ist Volker Bouffier. "Europa hat sich bewegt wie nie, auch auf Druck der CSU", sagt der hessische Ministerpräsident. Es wäre deshalb "höchst unklug", jetzt unabgestimmt nationale Maßnahmen, also Zurückweisungen an der Grenze, anzuordnen. Entscheidend sei, dass die EU-Beschlüsse auch umgesetzt würden, dass man besonnen und dass die Union beieinander bleibe.

Bouffier trägt das zwar mit seinem brummelig-beruhigenden Bass vor, aber es alarmiert doch alle. Wenn der CDU-Vize es vor Beginn der entscheidenden Sitzung für nötig hält, eindringlich vor einer Spaltung der Union zu warnen, dann scheint die Spaltung ja tatsächlich möglich zu sein. Doch wie dramatisch dieser Tag nach werden sollte, das ahnt nicht einmal Bouffier.

Ausgerechnet Bouffier, der einstige konservative Hardliner, ist im Streit mit der CSU zu einem der wichtigsten Verbündeten der Kanzlerin geworden. Wegen seiner Vergangenheit genießt er in der CSU immer noch mehr Vertrauen als andere Christdemokraten. Schon bei den Koalitionsverhandlungen nutzte Angela Merkel den Hessen, um mit den Bayern zu Kompromissen zu kommen. Dabei stand Bouffier in einer Weise treu und überzeugend an der Seite Merkels, wie es Christdemokraten, die noch die hessische Manfred-Kanther- und Roland-Koch-CDU erlebt haben, nie für möglich gehalten haben.

Nicht nur Markus Söder und die CSU müssen sich im Herbst einer Landtagswahl stellen. Auch in Hessen wird gewählt - und Bouffier hat nicht zu Unrecht die Sorge, dass der Unionsstreit ihm das Ergebnis verhageln könnte. Söder beklagt am Sonntag, dass die CSU noch nie vor einer Landtagswahl so wenig Unterstützung von der CDU erhalten habe. Was soll da erst Bouffier sagen? Vermutlich hat die CSU noch nie in ihrer Geschichte einem CDU-Landesverband den Wahlkampf dermaßen verhagelt wie jetzt Bouffier und seiner Hessen-CDU. Und für die Kanzlerin ist das Aufbegehren der CSU ohnehin ein Desaster. Nach einer quälend langen Regierungsbildung ist das Kabinett Merkel IV endlich im Amt - und schon könnte ihre Koalition wieder auseinanderbrechen.

"Ist am Ende dieses Tages Horst Seehofer noch Innenminister?" Die Bundeskanzlerin sagt nicht ja

Es ist Sonntag kurz vor 17 Uhr, als Bouffier seine Warnung herausbrummt. Kurz darauf beginnt die CDU-Präsidiumssitzung, um 19 Uhr stoßen auch die Vorstandsmitglieder dazu. Zu der Zeit tagt in München der CSU-Vorstand bereits seit vier Stunden - und die Nachrichten, die aus dem Freistaat ins Adenauer-Haus dringen, sind alarmierend. Offenbar macht die CSU keine Anstalten, den Streit auszuräumen. Und so warten sie in der Berliner CDU-Zentrale mit zunehmender Sorge darauf, wie sich die CSU entscheiden wird.

Für die Kanzlerin hat der Tag, an dem die CSU "das Endspiel um die Glaubwürdigkeit" in der Asylpolitik austragen will, bereits mit einem Dilemma begonnen. Als Merkel am Sonntag um 14 Uhr zur Aufzeichnung des ZDF-Sommerinterviews ins Studio kommt, ist noch unklar, wie die CSU sich entscheiden wird. Die Vorstandssitzung der Schwesterpartei in München beginnt erst um 15 Uhr. Entsprechend vorsichtig muss Merkel auftreten. Erklärungen gegenüber Journalisten, bevor die Gremien tagen - das schätzen Vorstandsmitglieder nicht. Und Merkel will den Streit nicht weiter befeuern. Aber ohne Not beidrehen will die Kanzlerin auch nicht.

"Ist am Ende dieses Tages Horst Seehofer noch Innenminister, ist die Union noch beisammen, hat Deutschland noch eine Regierung?", wird Merkel gefragt. Die Kanzlerin könnte jetzt einfach "Ja" sagen, um Druck aus dem Konflikt zu nehmen. Aber das macht sie nicht. Statt dessen weicht sie wortreich aus. Seehofer soll ja nicht den Eindruck bekommen, er könne die Zurückweisung von Flüchtlingen an der Grenze im Alleingang anordnen, ohne dabei sein Amt und die Koalition zu riskieren.

Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, der Grandseigneur der CDU, hat zwar bereits vor einer Woche klargemacht, dass Merkel "aus der Würde ihres Amtes heraus" gar keine andere Wahl habe, als Seehofer in so einem Fall sofort zu entlassen. Aber in der CDU haben sie auch am Sonntagabend noch den Eindruck, dass die CSU das anders einschätzen und deshalb hart bleiben könnte.

Im Ton zeigt Merkel in dem Sommerinterview keine Schärfe gegenüber der CSU, aber in der Sache bleibt sie bei ihrer Linie. Die Kanzlerin sagt, sie verstehe das Anliegen Seehofers, dass man mehr Ordnung in die "Sekundärmigration" bringen müsse - damit ist die Weiterreise bereits in anderen EU-Staaten registrierter Asylbewerber nach Deutschland gemeint. Diesem Anliegen sei sie mit den Vereinbarungen auf europäischer Ebene entgegengekommen, sagt Merkel. Dabei sei sie "sicher auch ein Stück" von der CSU angespornt worden. Und es sei auch richtig, dass man noch nicht da sei, "wo wir hinwollen". Aber inhaltlich gibt die Kanzlerin nicht nach. Für sie gelte nach wie vor, dass es weder unilaterale noch unabgestimmte oder zu Lasten Dritter gehende Maßnahmen geben dürfe. "Die Migrationsfrage kann Europa spalten", sagt Merkel. Deswegen sei ihr der Einsatz so wichtig - "und wenn es wichtig ist, dann muss man auch kämpfen". Die Kanzlerin nennt in diesem Zusammenhang die von Seehofer angedrohten Zurückweisungen nicht, aber es ist klar, dass es das ist, wogegen sie kämpfen will.

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Der CSU-Chef ist schon lange angezählt. Die Parteifreunde Dobrindt und Söder benutzen ihn - selbst nach seiner Rücktrittsankündigung. Seehofers letztes politisches Ziel: Wenn ich untergehe, dann mit Merkel.

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Merkel ist dafür bekannt, kaum einen Kompromiss zu scheuen, aber erpressen lassen will sie sich nicht. Unter Zwang wird sie eher bockig - wie beim CDU-Parteitag 2016, als sie sich durch einen Beschluss der Delegierten zum Doppelpass brüskiert sah und ankündigte, ihn einfach zu ignorieren.

Merkels Karten im Streit mit Seehofer sind allerdings nicht die besten. Wenn sie Zurückweisungen an den Grenzen durch ihn zulässt, verliert sie ihre Autorität. Wenn sie den Innenminister entlässt, ist das wohl nicht nur das Ende der großen Koalition und der Fraktionsgemeinschaft mit der CSU, sondern auch der Beginn einer Erosion der Volkspartei CDU. Merkel würde als die Kanzlerin in die Geschichtsbücher eingehen, in deren Ära eine Partei rechts von der Union entstanden und das Band zwischen CDU und CSU gerissen ist. Es wäre ein schmachvoller Eintrag.

Viele in der CDU haben sich bemüht, die CSU mit Hinweisen auf ihre Bedeutung zu umgarnen

Merkel und ihre CDU bemühen sich deshalb schon seit Tagen um einen vorsichtigen Umgang mit der CSU. Bereits in ihrer Regierungserklärung am Donnerstag hatte die Kanzlerin der CSU Brücken gebaut. Sie dankte Seehofer für seinen "Masterplan", obwohl der Innenminister diesen bisher noch nicht einmal der Unionsfraktion vorgestellt hat. Sie verteidigte die "Ankerzentren", die der CSU so wichtig sind, und appellierte an die blockierenden Bundesländer, diese "jetzt auch schnellstmöglich umzusetzen". Nach dem EU-Gipfel am Freitag umgarnten dann nicht nur Bouffier, sondern auch viele andere CDU-Politiker die CSU mit dem Hinweis, dass die Beschlüsse des Gipfels ohne den Druck der Bayern vermutlich gar nicht zustande gekommen wären.

Vor allem aber hofften sie in der CDU, dass die jüngsten Umfragen die CSU auf einen moderateren Kurs bringen könnten. Eine Erhebung von Forsa hatte vor einer Woche ergeben, dass die Zustimmungswerte für Söder in Bayern dramatisch einbrechen. Der Umfrage zufolge ist Merkel jetzt sogar unter den CSU-Anhängern wieder beliebter als Söder. Doch um 22.40 Uhr nimmt der Abend eine unerwartete Wendung. Die CSU lenkt nicht ein, sie beschließt auch nicht den faktischen Bruch mit der CDU. Stattdessen kündigt Seehofer in der Vorstandssitzung seinen Rücktritt als CSU-Chef und Innenminister an.

Was das für die Koalition und die Fraktionsgemeinschaft von CDU und CSU bedeutet, bleibt zunächst unklar. CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt sagt, er wolle den Rücktritt nicht akzeptieren. Auch andere CSU-Granden versuchen, Seehofer von seiner Entscheidung wieder abzubringen. Die Vorstandssitzung wird unterbrochen. In Berlin stellt derweil CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer einen Beschluss des CDU-Vorstandes vor, der mit einer Enthaltung angenommen worden sei. Darin wendet sich die CDU-Spitze deutlich gegen die CSU-Forderung, Flüchtlinge an der deutschen Grenze zurückweisen. Derartige Zurückweisungen "wären nach unserer Ansicht das falsche Signal an unsere europäischen Gesprächspartner", sagt Kramp-Karrenbauer. Spätestens in diesem Moment ist klar, dass die CDU zu keinen Konzessionen an die CSU mehr bereit ist.

Ob das die Union sprengt? Im Adenauer-Haus warten sie jetzt gebannt auf den Fortgang der Sitzung in München. Ist Seehofer am Montag wirklich nicht mehr Innenminister? Wen könnte die CSU statt Seehofer zum Innenminister machen? Und würde dieser Nachfolger dann ebenfalls nationale Alleingänge an der Grenze anordnen wollen - und damit die Koalition sprengen? Aber auch kurz nach Mitternacht ist in der CSU-Zentrale immer noch nichts entschieden.

© SZ vom 02.07.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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