SZ: Deutschland plant einen Syrien-Einsatz, großen Widerstand gibt es dagegen nicht in der Bevölkerung. Wo ist denn die Friedensbewegung?
Rucht: Die Friedensbewegung spielt zurzeit in der Tat keine große Rolle. Es gibt vereinzelte Stimmen, aber keine große Mobilisierung gegen die anstehenden Interventionen. Das ist eine Entwicklung, die schon länger währt. In den bewaffneten Konflikten der Gegenwart fällt es zusehends schwer, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden.
Natürlich gibt es im Moment einen eindeutigen Bösen: den Islamischen Staat. Doch kompliziert wird es schon bei den Fragen: Was heißt es, gegen ihn Krieg zu führen? Soll man alle Parteien der Gegenseite bewaffnen oder lieber nicht - etwa aus Angst, dass Waffen am Ende dem IS in die Hände fallen können? Man kommt auf eine Fülle solcher Fragen, die zu vielschichtig sind für eine große Mobilisierung gegen den Krieg.
Als Hochzeit der Friedensbewegung in Deutschland gelten die 80er Jahre - was hat die Menschen damals mobilisiert?
Da war das Bedrohungspotenzial einfach sehr groß. Vor dem Hintergrund des Kalten Krieges konnte sich jeder in Mitteleuropa von Aufrüstung und Raketenstationierung betroffen fühlen. Jetzt haben wir es hingegen mit Konflikten zu tun, die regional abgegrenzt sind und sich weitgehend außerhalb Europas abspielen. Auch die Umstellung von einer Pflicht- zu einer Freiwilligenarmee spielt da eine Rolle. Früher konnte potenziell jeder Bundesbürger im entsprechenden Alter über die Wehrpflicht zum aktiven Krieger werden. Wenn es hingegen wie jetzt eine Berufsarmee gibt, dann sagen viele: Wer das freiwillig macht, obwohl er weiß, dass es Auslandseinsätze der Bundeswehr gibt, der muss eben im Ernstfall seinen Kopf hinhalten.
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Heißt das also: Solange der Krieg nicht vor meiner eigenen Haustür stattfindet, mich nicht persönlich betrifft, ist er mir egal?
Nicht ganz. Es gibt keine Faustregel, die lautet: Je näher der Konflikt, desto größer die Mobilisierung. So hat zum Beispiel der Vietnamkrieg auch in Deutschland zu einer beachtlichen Mobilisierung geführt. Genau wie übrigens die Irakkriege von 1991 und 2003. Da haben sich ebenfalls viele jüngere Menschen an den Demonstrationen beteiligt.
In diesen Fällen waren es die USA, gegen die sich die Proteste richteten ...
Das spielte damals eine große Rolle. Weil die Wahrnehmung herrschte: Da sind Falken mit einem schlichten Weltbild an der Macht, die aus ideologischen Gründen oder aus Machtinteresse einen Krieg anzetteln. Man konnte ja zum Beispiel beim anstehenden Irakkrieg 2003 eine Menge guter Argumente gegen die Politik von George W. Bush geltend machen, die sich hinterher auch bestätigt haben. Heute ist das komplizierter. Barack Obama ist ein US-Präsident, der auch im linksliberalen Lager Respekt genießt. Er gilt nicht als Kriegstreiber, der rücksichtslos die US-amerikanischen Interessen durchsetzen will.
Gleichzeitig gilt seit der Amtszeit von George W. Bush der Terrorismus als weltweite Bedrohung. Welche Rolle spielt der "Krieg gegen Terror" für das Verstummen der Friedensbewegung?
Man kann mit dem Krieg gegen Terror vieles rechtfertigen. Überwachung des Telefons und Internets, aber auch bewaffnete Interventionen. Das ist für viele Menschen überzeugend, insbesondere mit Blick auf den IS als Aggressor, dem man militärisch entgegentreten muss.
In den vergangenen Jahren gab es eine schleichende Gewöhnung an den Gedanken, dass Deutschland auch militärisch eingreift. Das geschah auch durch einen gewissen Druck von außen, von Ländern, die aus historischen Gründen weniger Vorbehalte gegen Militäreinsätze haben als die Deutschen. Zum Beispiel die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs.
Wir sind ja auch längst in die Gemeinschaft der Völker integriert und an Bündnissen beteiligt. Wenn dann andere Länder im Namen von Menschenrechten militärische Interventionen durchführen, sagen auch hierzulande immer mehr Menschen: Deutschland kann sich da nicht dauerhaft raushalten, das wäre unfair. Egal, was man von dieser Argumentation hält, muss man konstatieren: Immer mehr Politiker geben ihr nach.
Das Wort "Krieg" nehmen Politiker in Deutschland jedoch selten in den Mund, im Fall von Afghanistan hat es neun Jahre gedauert. Woran liegt das?
Begriffe wie "militärische Intervention", "bewaffneter Konflikt" oder "gezielte Luftschläge" klingen harmloser als das bedeutungsschwere Wort Krieg, das gerade in Deutschland mit Schuld, unsäglichem Leid und einer Niederlage assoziiert wird.
Warum gelang es der Friedensbewegung nicht, ihr Mobilisierungspotenzial über den Kalten Krieg hinaus zu halten?
Die Friedensbewegung war immer organisatorisch schlecht aufgestellt; es sind nur wenige und kleine Netzwerke, die dauerhaft aktiv sind. Charakteristisch war immer, dass es externe Anlässe für größere Mobilisierungen gab - etwa massiv aufzurüsten oder Überlegungen, in einen Krieg einzutreten. Dann finden die Aufrufe der kleinen Organisationskerne plötzlich Resonanz und können innerhalb kurzer Zeit viele Menschen mobilisieren.
Es gibt ein großes aber diffuses Potenzial an Menschen, die Kriegseinsätzen kritisch gegenüberstehen. Das bedeutet aber nicht, dass sich diese Menschen dauerhaft engagieren. Wenn der externe Anlass wegfällt, ziehen sie sich wieder zurück. Darin unterscheidet sich die Friedensbewegung maßgeblich von der Umwelt- oder der Arbeiterbewegung. Die sind auch nicht ständig auf der Straße sichtbar, haben aber eine bessere Infrastruktur und sind kontinuierlicher aktiv.
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Zeigt sich in der Frage nach Krieg und Frieden auch ein Generationenkonflikt?
Viele Angehörige der älteren Generation, die den Zweiten Weltkrieg noch miterlebt hat, sind durch diese Erlebnisse zu überzeugten Pazifisten geworden. Im Jahr 1949 meinte sogar Franz Josef Strauß, der sich später für die atomare Bewaffnung der Bundeswehr eingesetzt hatte: "Wer noch einmal das Gewehr in die Hand nehmen will, dem soll die Hand abfallen." Die pazifistische Generation hat zum Beispiel die Ostermärsche stark geprägt. Das schwindet mit dem Tod dieser Menschen.
Die junge Generation hingegen sieht räumlich begrenzte Konfliktherde, aber keinen Weltkrieg, von dem Europa betroffen sein könnte. Wir in Europa leben insofern auf einer Insel der Glückseligen. Wir beziehen Position, beteiligen uns an militärischen Einsätzen - aber die Gesamtbevölkerung droht nicht Opfer dieser Einsätze zu werden. Viele jüngere Menschen behandeln die Frage nach Krieg und Frieden daher nicht ausschließlich als eine moralische Angelegenheit. Sondern sie fragen zum Beispiel nach den politischen und ökonomischen Kosten eines Konflikts oder was passieren soll, wenn der Militäreinsatz vorbei ist. Ein solches Abwägen führt aber kaum zu einer argumentativen Gewissheit oder gar einer Geste moralischen Überlegenheit.
So ganz stimmt es ja aber nicht, dass wir von Krieg nicht direkt betroffen sind. Immerhin kommen in diesem Jahr so viele Flüchtlinge zu uns wie nie zuvor.
Das stimmt. Doch beflügelt haben die Flüchtlinge die Friedensbewegung trotzdem nicht. Dies liegt auch daran, dass für die Fluchtbewegungen ein komplexes Bündel an Ursachen verantwortlich ist. Neben Krieg spielen auch Armut, politische Ausgrenzung von Minderheiten oder gar Mehrheiten, die ökologische Verwüstung von Regionen und vieles andere eine Rolle. Die Frage nach Krieg und Frieden berührt nur eines dieser Probleme.
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Dieter Rucht ist Soziologe, bis zu seiner Emeritierung 2011 arbeitete er am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung und forschte unter anderem zu sozialen Bewegungen in Deutschland. Er ist Honorarprofessor für Soziologie an der Freien Universität Berlin.