Die Scheidungspapiere liegen schon auf dem Tisch. Viele Stellen sind mit grünem Marker gekennzeichnet, andere aber eben nicht. Und genau die, sagt Michel Barnier, seien das Problem. "Ich empfehle, die Schwierigkeiten nicht zu unterschätzen, die jene 25 Prozent des Textes bergen, die noch nicht grün sind", mahnt der Chefunterhändler der EU-Kommission für den Brexit im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung und weiteren europäischen Medien.
Die Verhandlungen sieht er nun in einer entscheidenden Phase. Bis Oktober soll das Austrittsabkommen stehen, damit Großbritannien Ende März 2019 den geordneten Rückzug aus der EU antreten kann. Wie in jeder Verhandlung, bereite der "Rest" die größten Schwierigkeiten. Unter diesen Restposten in den Brexit-Verhandlungen ist Irland der größte und heikelste. Es gehe darum, das Karfreitagsabkommen "in allen seinen Dimensionen" zu erhalten, sagt Barnier.
Bislang lebt die Friedensvereinbarung davon, dass die Republik Irland und der zum Vereinigten Königreich gehörende Norden im Rechts- und Wirtschaftsraum der EU vereint sind. Wenn dem nicht mehr so ist, müsste es mitten in Irland eigentlich wieder Zoll- und Warenkontrollen geben, denn ein unbeschränktes Einfallstor in ihren Binnenmarkt will die EU nicht dulden.
20 Jahre Frieden in Nordirland:"Der Brexit unterminiert das Karfreitagsabkommen"
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An die von britischer Seite in Aussicht gestellten originellen technischen Lösungen glaubt Barnier nicht. Vielmehr soll Nordirland durch eine Ausnahmeregelung in die EU-Zollunion integriert werden. Die Folge wären Kontrollen zwischen Nordirland und dem Rest des Vereinigten Königreiches.
Die Außengrenze der EU würde also in gewisser Weise mitten durch Großbritannien führen, was erbitterten Widerstand erwarten lässt - den Barnier aber für unbegründet hält. "Das stellt die britische Verfassungsordnung nicht in Frage. Es gibt schon heute in Belfast gewisse Kontrollen für Waren, die aus dem Rest des Vereinigten Königreichs nach Nordirland kommen, etwa tierische Produkte", sagt er. Es gehe "um eine technische, pragmatische Lösung, nicht um Ideologie". Eine bessere Lösung sei Großbritannien bislang schuldig geblieben: "Wir haben diesen Plan auf den Tisch gelegt. Einen anderen habe ich bislang nicht gesehen."
Schwierigkeiten in Form einer Treppe
Die Schwierigkeit der Verhandlungen dokumentiert Barnier anhand seiner mittlerweile berühmten Treppe. Die Grafik zeigt den Weg hinab zu einem Verhältnis zwischen der EU und Großbritannien, das aufgrund der von Premierministerin Theresa May gezogenen "roten Linien" bestenfalls dem zu Kanada entspricht, einer losen Verbindung also durch ein umfassendes Freihandelsankommen.
Ganz oben auf der Treppe steht Norwegen, das - wiewohl nicht EU-Mitglied - Teil des Binnenmarktes ist. Wenn Großbritannien nach dem Austritt aus der EU jedwede Hindernisse im Handel vermeiden wolle, gebe es nur einen Weg: "Norwegen plus". Großbritannien bliebe dann im Binnenmarkt und auch der Zollunion. "Das ist die einzige Option, die reibungslosen Handel ohne Kontrollen ermöglicht. Bei allen anderen Optionen wird es Kontrollen geben", warnt Barnier.
"Wenn Großbritannien sich entscheidet, seine roten Linien zu verändern, werden auch wir unsere Positionen verändern. Wir bleiben offen. Es gibt keine Dogmen", fügt er hinzu. Nicht verhandelbar seien nur die Integrität des Binnenmarktes und die Unteilbarkeit der vier Freiheiten. Soll heißen: Ohne freien Personenverkehr gibt es auch keinen freien Verkehr für Waren, Dienstleistungen und Kapital.
Welche roten Linien kassiert werden könnten, darüber wird in Großbritannien längst diskutiert. So liebäugelt Labour mit dem Verbleib in der Zollunion. "Ich habe verschiedene britische Politiker empfangen. Ich finde diese Diskussionen sehr inspirierend. Meine Tür ist offen, aber verhandelt wird nur mit der britischen Regierung", sagt Barnier dazu.
Beim EU-Gipfel im März hatten bereits die Staats- und Regierungschefs der 27er-EU in Aussicht gestellt, ihre Positionen zu "überdenken", sollten die Briten einzelne ihrer roten Linien streichen. Dies wäre, wie Barnier klar macht, nach dem Brexit noch möglich. In einer Übergangsphase bis Ende 2020 seien die Briten ja noch drin in Zollunion und Binnenmarkt.