Am 10. April 1998 unterzeichneten die irische und die britische Regierung sowie die Parteien in Nordirland das Karfreitagsabkommen (englisch: Good Friday Agreement), um den nordirischen Bürgerkrieg zwischen irischen Nationalisten und protestantischen Unionisten zu beenden. Es sah eine Entwaffnung der paramilitärischen Gruppen (Irish Republican Army/IRA; UDA/Ulster Defence Association, UVF/Ulster Volunteer Force) beider Seiten sowie eine Amnestie für die Kämpfer vor. Heute, 20 Jahre danach, rückt der Konflikt wieder in den Fokus, da das Brexit-Votum zu einer harten Grenze zwischen dem britischen Nordirland und der Republik Irland führen könnte. In der Hauptstadt Belfast trennen noch immer etwa 100 Mauern und Zäune Wohnviertel der beiden Bevölkerungsgruppen ( hier eine Übersicht). Peter Neumann lehrt am King's College in London und hat über den Nordirlandkonflikt promoviert.
SZ: Herr Neumann, in einem Ihrer Bücher bezeichnen Sie die Gesellschaft Nordirlands als gespalten. Kann man das heute, 20 Jahre nach Unterzeichnung des Karfreitagsabkommens, immer noch behaupten?
Peter Neumann: Absolut. Die Spaltung hat sich eher noch vertieft, allerdings ohne Gewalt. Die zwei Bevölkerungsgruppen, katholisch-irische Nationalisten und protestantisch-britische Unionisten, leben in einer Art kaltem Frieden. Die Wohngebiete und die Schulsysteme sind nach wie vor mehr oder weniger getrennt. Fast alle gesellschaftlichen Organisationen sind entweder katholisch oder protestantisch. Von Aussöhnung in dem Sinn, dass die beiden Gruppen zusammenkommen und eine gemeinsame Identität entwickeln, kann keine Rede sein.
Die militärischen Organisationen, die IRA auf der irischen und die UVF/UDA auf der britischen Seite, versprachen, ihre Waffen abzugeben. Inwieweit sind ihre Strukturen noch intakt?
Es gibt diese Strukturen wohl noch, allerdings sind sie nicht mehr so aktiv und werden für andere Zwecke genutzt. Diese Gruppen sind jetzt zum Teil heftig in die organisierte Kriminalität verwickelt. Es wird davon ausgegangen, dass ein Großteil der Drogengeschäfte in Nordirland von ehemaligen protestantischen Paramilitärs abgewickelt wird. Und dass ein Großteil des Schmuggels, zum Beispiel von Zigaretten und Benzin, an der Grenze zur Republik Irland von ehemaligen IRA-Leuten organisiert wird. Man muss allerdings sagen, dass sich diese Gruppen nicht einfach zurück in einen Kriegszustand versetzen ließen, denn sie haben sehr viele ihrer Waffen abgegeben.
Der Brexit hat dem Konflikt neue Dynamik gegeben. Gefährdet er den Friedensprozess?
Es sind da zwei Dinge zusammengekommen. Der Brexit ist die eine Sache, die das Friedensabkommen gefährdet.
Und die andere?
Dass Theresa May bei der jüngsten Unterhauswahl keine Mehrheit bekommen hat und jetzt auf die zehn Abgeordneten der nordirisch-protestantischen DUP (Demokratisch-Unionistische Partei) angewiesen ist.
Warum ist diese Abhängigkeit gefährlich?
Die Rolle der britischen Regierung hat immer darauf basiert, als ehrlicher Mittler zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen aufzutreten. Doch da die Regierung die DUP nun ganz offen braucht, ist das hinfällig geworden.
Wie wirkt sich der Brexit aus?
Der Brexit könnte zu einer harten Grenze zwischen Nordirland und Irland führen. Diese Grenze existiert derzeit de facto nicht. Für viele katholische Nationalisten war ein wesentliches Element des Friedensabkommens die Idee, dass durch die europäische Einigung die zwei Teile Irlands ohnehin enger zusammenwachsen würden und dass die Teilung der Insel dadurch praktisch irrelevant würde. Der Brexit unterminiert das Karfreitagsabkommen und er unterminiert auch die Hoffnungen der Katholiken und deren Identitätsgefühl, auf einer geeinten Insel zu leben. Für sie ist das ein doppelter Schlag: die Regierung in London, die offen feindlich ist gegenüber den Nationalisten und dann noch der Brexit.
Ist das Karfreitagsabkommen für so einen Einschnitt wie den Brexit überhaupt gerüstet?
Überhaupt nicht. Das konnte sich 1998 keiner vorstellen, dass Großbritannien die EU jemals verlassen würde.
Die gesamtirische Partei Sinn Féin, die als politischer Arm der IRA galt, hat nach dem Brexit-Votum ein Referendum in Nordirland über die Zugehörigkeit zu Großbritannien gefordert. Für wie wahrscheinlich halten Sie das?
Es gibt noch eine knappe protestantische Mehrheit in Nordirland, die wahrscheinlich für einen Verbleib bei Großbritannien stimmen würde. Und von den Katholiken, die in Nordirland leben, sind nicht alle für eine Vereinigung mit Irland, weil sie befürchten, dass das zu einem Bürgerkrieg führen könnte. An dieser Befürchtung ist auch ein bisschen etwas dran. Ein Referendum würde für Sinn Féin aktuell nicht zum gewünschten Ergebnis führen. Deswegen glaube ich, dass das eine rhetorische Forderung ist, weil die Partei weiß, dass die britische Regierung das derzeit auch nicht zulassen würde. Die Hoffnung der Nationalisten ist allerdings, dass es irgendwann eine katholische Mehrheit gibt, die sich für eine Vereinigung ausspricht. Und im Karfreitagsabkommen ist auch die Möglichkeit vorgesehen, dass die Mehrheit der Bevölkerung darüber entscheidet.
Das heißt, die irisch-katholische Bevölkerung wächst stärker als die protestantische?
Ja, das ist sicher so. Und das ist auch der Hintergrund für viele Konflikte. Wenn man in Deutschland in den Nachrichten sieht, wie der protestantische Oranierorden durch ein katholisches Gebiet marschiert, dann fragen sich viele: Was machen die da? Der Oranierorden ist aber immer schon durch dieses Gebiet marschiert. Nur war es vor 20 Jahren noch protestantisch. Mittlerweile sind einige Teile von Belfast, zum Beispiel im Norden, die traditionell protestantisch waren, jetzt katholisch. Das ist die große Befürchtung der Protestanten, dass sie aus ihrer Sicht in eine Art Belagerungszustand geraten, in der ihre britische Identität Schritt für Schritt zugrunde geht. Diese Menschen denken: Früher oder später müssen wir uns alle den Iren beugen.
Deutschland und die EU unterstützen die irische Regierung dabei, eine harte innerirische Grenze zu verhindern. Um diese zu vermeiden, könnte Nordirland nach dem Brexit im Binnenmarkt und in der Zollunion bleiben. Wäre das für die Briten akzeptabel?
Ich glaube, dass Theresa May durchaus gewillt wäre, diese wirtschaftliche Teilung des Vereinigten Königreichs zuzulassen. Die Bereitschaft dazu hat sie bereits beim EU-Gipfel im Dezember signalisiert. Dann telefonierte sie mit der DUP-Vorsitzenden Arlene Foster, die ihre Koalitionspartnerin ist, und zog das Angebot wieder zurück, weil Foster ihr Veto eingelegt hatte. Die nordirischen Protestanten akzeptieren keine Lösung, in der die Vereinigung Irlands quasi vorweggenommen wird. Außerhalb dieser Variante, die in Großbritannien politisch momentan eher unwahrscheinlich ist, gibt es keine Lösung für eine weiche irische Grenze. Es sei denn, ganz Großbritannien bliebe in der Zollunion und im Binnenmarkt. Viele EU-Beobachter sagen, bei allen anderen Brexit-Themen könne man Kompromisse schließen, aber dieses Problem lasse sich nicht so leicht beheben.
Wird diesem Problem zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet?
In Großbritannien war das Thema jetzt schon ein paar Wochen ganz prominent und hat im rechten britischen Spektrum sehr interessante Reaktionen hervorgerufen. Auf der einen Seite gibt es Konservative, die sagen: Was erlauben sich diese Iren, uns zu diktieren, wie unsere Grenzen auszusehen haben? Das war sozusagen der imperiale Reflex. Andere Konservative sagen: Dann sollen sich die Iren doch vereinigen. Der Brexit ist uns wichtiger als Nordirland. Das britische Establishment ist zwar rhetorisch sehr unionistisch, besonders in der konservativen Partei, aber in der Praxis eher nicht. Und das hat man auch wieder an Theresa Mays Bereitschaft gesehen, einer Teilung zuzustimmen. Von der tatsächlich unionistischen Seite wurde das natürlich als totaler Ausverkauf begriffen.
Wissen die Unterhändler auf EU-Seite genug über den Nordirlandkonflikt?
Es gibt schon in Großbritannien sehr wenige, die sich damit gut auskennen. Dass sogar Brexitminister David Davis oder Theresa May nicht genau verstehen, was Protestanten in Nordirland motiviert, ist nicht überraschend. Nordirland wird von vielen Briten nicht wirklich als Großbritannien akzeptiert. Wenn sie im Fernsehen protestantische Unionisten aus Belfast sehen, die den Union Jack vor sich hertragen und ihre britische Identität beschwören, dann amüsiert das Leute in England manchmal sehr. Die verstehen das nicht.
Seit einem Jahr hat Nordirland keine Regierung - die stets vorgesehene Koalition zwischen Katholiken und Protestanten ist zerbrochen. Wie problematisch ist das?
Das sollte auf jeden Fall kein Dauerzustand sein. Aber solange die DUP in London ein Vetorecht hat, lässt sich das nicht einfach lösen. Ich glaube nicht, dass es in naher Zukunft wieder zu einem gewaltsamen Konflikt kommt. Das ist auch nicht im Interesse von Sinn Féin. Diese Partei hat sich wirklich gewandelt, obwohl sie nach wie vor sehr auf dem Image der starken Männer beruht, die von sich sagen: Wir haben für Irland gekämpft. Dass es momentan in Nordirland keine Regierung gibt, das nützt der Partei eher, weil der Grund dafür ist, dass die Protestanten in London mitregieren. Das stärkt das Narrativ von Sinn Féin, dass es in Nordirland niemals eine gerechte Lösung geben wird, weil die Unionisten Extrarechte haben.
Die britische Regierung wirkt sehr zurückhaltend in dieser kritischen Situation...
... total.
Hat auch das damit zu tun, dass Theresa May in London mit der DUP regiert?
Das ist der Verdacht. Ich glaube nicht, dass das das einzige Motiv ist. Aber natürlich ist die britische Regierung in den Augen der nicht-unionistischen Parteien in Nordirland kompromittiert, ist kein ehrlicher Mittler mehr. Außerdem besteht in der britischen Regierung momentan für kein anderes Thema außer dem Brexit überhaupt Kapazität. Ich kann mir vorstellen, dass auch das mit reinspielt.
Was ist aus Ihrer Sicht das realistischste Szenario für Nordirland?
Großbritannien hat seit Ende des Zweiten Weltkriegs kein strategisches Interesse mehr an Nordirland und wäre schon gestern bereit gewesen, diesen Landesteil aufzugeben. Wer nicht dazu bereit ist, sind die nordirischen Protestanten. Gäbe es eine Möglichkeit, Irland zu vereinigen, ohne dass ein neuer Bürgerkrieg in Nordirland droht, dann wäre das bereits passiert. Ich habe allerdings große Zweifel, ob die nordirischen Protestanten davon überzeugt werden können, dass eine Vereinigung in ihrem Interesse ist. Die Intention des Karfreitagsabkommens war, dass die Grenze zwischen Irland und Nordirland, auch durch die Europäische Vereinigung, irrelevant wird. Der Brexit ist für diese Vision eine Gefahr. Es hängt nun alles davon ab, was bei den Verhandlungen herauskommt. Dass es wie in den siebziger Jahren wieder zu einem bürgerkriegsähnlichen Konflikt kommt, kann ich mir aber nicht vorstellen. Es wäre auch schlimm, wenn eine neue Generation vergessen würde, wie schlecht es in Nordirland einmal war.