Es verrät viel über die Lage des belarussischen Machthabers Alexander Lukaschenko, dass sich Bundeskanzlerin Angela Merkel und der russische Präsident Wladimir Putin in ihrem Telefonat am Dienstag in einem einig gewesen sein dürften: Die Zukunft von Belarus wird eine ohne Lukaschenko sein.
Der Diktator hat keine Freunde mehr. Im Westen sowieso nicht, aber im Osten eben auch nicht mehr. Ginge es also nur um die Figur Lukaschenko, so müsste der tiefe Graben zwischen der Europäischen Union und Russland diesmal relativ leicht zu überbrücken sein.
Der an diesem Mittwoch per Video stattfindende EU-Gipfel zur Lage in Belarus wird jedoch zeigen, dass das Gegenteil der Fall ist. Belarus hat das Zeug zum Paradebeispiel für einen neuen Systemkonflikt, in dem selbst bei gutem Willen für beide Seiten tragbare Lösungen kaum noch zu finden sind.
Andere Ausgangslage als 2014 in der Ukraine
Dabei ist die Ausgangslage vollkommen anders als etwa 2014 in der Ukraine. In Belarus hat nicht der russische Machtanspruch die Menschen auf die Straßen getrieben, sondern die plumpe Fälschung einer Wahl, die Selbstherrlichkeit eines alternden Autokraten, das Missmanagement der Corona-Krise und die schlechte Wirtschaftslage.
Polizeigewalt in Belarus:Tritte, Schläge - und die Angst vor einer weiteren Eskalation
Gefolterte Festgenommene und zahlreiche Vermisste: Erst allmählich wird den demonstrierenden Menschen in Belarus klar, welches Ausmaß die Gewalt durch die Polizei hatte - und offenbar noch immer hat.
Die Opposition in Minsk richtet sich, jedenfalls bisher, nicht gegen Moskau. Auch spaltet sich die Bevölkerung nicht in dem Maße wie in der Ukraine in Teile, die eher dem Westen oder Russland zuneigen. Gerade das bringt Putin in eine paradoxe Lage. Die grundsätzliche Sympathie der Menschen verschafft ihm keinen Spielraum, sondern engt ihn ein.
Das Handbuch russischer Außenpolitik kennt für die Sicherung des Einflusses in der Nachbarschaft das immer gleiche Rezept. Es sieht vor, schwelende Konflikte am Leben zu erhalten, bei Bedarf zu verschärfen und dabei auf prorussische Kräfte zu setzen. Auf die Lage in Belarus lässt sich dieses Rezept nicht ohne Weiteres anwenden, schon gar nicht mit einer militärischen Intervention.
Europäische Außenpolitik: Interessen und Werte
Die belarussische Bevölkerung würde sich Putin nur gewogen halten können, indem er sich einer fairen und freien Wiederholung der Präsidentenwahl nicht entgegenstellt. Damit aber würde er ausgerechnet in einer Zeit, in der auch in Russland der Unmut über die Wirtschaftskrise wächst, ein gefährliches Beispiel zulassen. Der Taktierer Putin sitzt in der Falle seiner eigenen Politik.
EU-Sondergipfel:Die Krise in Belarus wird zur Machtprobe
Putin will ein Abdriften von Belarus aus dem russischen Kontrollbereich verhindern. Die EU dagegen möchte die Weißrussen selbst über ihre Zukunft entscheiden lassen. Keine leichte Aufgabe für den EU-Sondergipfel an diesem Mittwoch.
Für die EU heißt das, dass zu den vielen Konflikten mit Russland fast unausweichlich ein weiterer hinzukommt. Auch ihr Handlungsspielraum ist begrenzt. Wo immer Menschen in Massen friedlich gegen Willkürherrschaft und für freie Wahlen auf die Straße gehen, wird die EU automatisch zur Partei.
Die Außenpolitik der Europäer bezieht ihre Legitimation daraus, stets nicht nur Interessen, sondern auch Werte zu vertreten. Das unterscheidet sie von Russen, Chinesen und zunehmend von den USA. Aufgeben können die Europäer diesen Anspruch nicht, jedenfalls nicht, ohne sich selbst aufzugeben.
Während Putin also alles gegen einen Übergang tun wird, der das Ergebnis einer wirklich freien und demokratischen Wahl ist, müssen Merkel und die anderen Europäer sich hüten, einem Verrat an den Demonstranten von Minsk ihren Segen zu geben. Die Außenpolitik im 21. Jahrhundert wird eben nicht nur geprägt von der oft beschworenen Konkurrenz der Großmächte, sondern auch vom Konflikt der Systeme. So richtig es bleibt, Schnittmengen zu suchen, gilt daher auch: Die Schnittmengen werden immer kleiner.