Polizeigewalt in Belarus:Tritte, Schläge - und die Angst vor einer weiteren Eskalation

Belarus Proteste Minsk

Proteste vor einem Gefängnis in Minsk.

(Foto: imago images/ITAR-TASS)

Gefolterte Festgenommene und zahlreiche Vermisste: Erst allmählich wird den demonstrierenden Menschen in Belarus klar, welches Ausmaß die Gewalt durch die Polizei hatte - und offenbar noch immer hat.

Von Silke Bigalke, Moskau

Am Montagabend verlagert sich der Protest in Minsk allmählich in die Okrestin-Straße. Dort steht eine der Haftanstalten, in der Demonstrierende über Tage festgehalten und schwer misshandelt wurden. Beinahe 7000 Menschen hatten die Einsatzkräfte während der Proteste gegen Machthaber Alexander Lukaschenko festgenommen, so viele, dass ihnen der Platz in manchen Gefängnissen ausging. Nun vergeht in Belarus kein Tag, ohne dass Freigelassene über Folter in Haftanstalten und Ärzte über schwere Verletzungen berichten, zugefügt durch Polizei und Sicherheitskräfte.

Die Demonstrationen sind dadurch nicht kleiner geworden, sie haben vielmehr nur noch größeren Zulauf bekommen. Seit Ende vergangener Woche halten sich die Einsatzkräfte zurück. Und laut belarussischem Innenministerium sollen inzwischen beinahe alle Festgenommenen wieder frei sein. Doch daran wollen die Demonstrierenden nicht glauben. "Freiheit, Freiheit", rufen sie in der Okrestin-Straße. Im Park vor dem Knast warten Freiwillige mit Getränken und Erster Hilfe auf weitere Freilassungen. Sie bitten die Protestierenden, ruhig zu sein, um es nicht "noch schlimmer" für die Häftlinge drinnen zu machen.

Den Beschwichtigungen der Behörden glauben viele nicht, genauso wenig den offiziellen Zahlen darüber, wie viele frei, wie viele verletzt, wie viele getötet worden sind in den vergangenen Tagen. Laut Medienberichten werden immer noch um die 60 Menschen vermisst.

Bekannt sind bisher zwei Tote. Es werden allerdings viel mehr befürchtet

Zuverlässig kann das niemand sagen, auch die Menschenrechtsgruppe Wjasna hat bisher keinen Überblick. Laut Gesundheitsministerium liegen 158 Menschen verletzt im Krankenhaus, doch angesichts der vielen Schreckensberichte klingt das unwahrscheinlich wenig. Freigelassene erzählen von überfüllten Zellen voller verletzter Menschen, von offenen Wunden und gebrochenen Knochen, von Blut an den Wänden und auf dem Boden. Oft gab es kein Wasser, dafür Schläge für jede Bewegung. Ein 16-Jähriger wurde mit so schwerwiegenden Verletzungen von einer Polizeistation ins Krankenhaus gebracht, dass er ins Koma versetzt werden musste. Mindestens ein Mensch, ein 25-Jähriger, starb in Haft, es ist bisher der einzige offiziell bestätigte Fall. Die Todesursache ist unklar, die Beerdigung war Sonntag.

Auch während der Proteste gab es einen Toten, der offiziell bestätigt ist. Dem 34-jährigen Alexander Taraikowskij sei ein selbstgebauter Sprengsatz in der Hand explodiert, so die offizielle Erklärung. Doch seine Lebensgefährtin hat die Leiche vor der Beerdigung gesehen. Sie sagte der Nachrichtenagentur AP, die Hände seien unversehrt gewesen. Dafür fand sie ein kleines Loch in der Brust, das genäht worden war. Sie glaubt, Alexander Taraikowskij ist erschossen worden. Inzwischen sind Videos veröffentlicht geworden, die diese Vermutung stützen.

Die belarussische Nachrichtenseite tut.by zitiert einen Arzt aus einem Minsker Militärkrankenhaus, in das Menschen mit Schussverletzungen eingeliefert wurden. Der Mann wollte anonym bleiben, berichtet aber detailliert: Als Schussverletzungen gelten auch solche durch Gummigeschosse. Doch viele Patienten seien so schwer in Bauch- und Brusthöhe getroffen worden, dass die Verletzungen unabhängig von der Waffe lebensbedrohlich seien, so der Arzt.

Viele fürchten daher, dass es am Ende nicht bei zwei Todesopfern bleiben könnte. Mehr als 600 Menschen erstatteten Anzeige beim Ermittlungskomitee, weil sie während der Festnahme verletzt wurden, weitere 100 zeigten Körperverletzungen während der Haft an. Bevor am Donnerstagabend die ersten Menschen entlassen wurden, hatte sich der belarussische Innenminister entschuldigt - bei denen, die "zufällig" verhaftet worden waren, weil sie nicht schnell genug aus dem Weg gehen konnten. Für die krasse Gewalt gegenüber friedlichen Demonstrierenden entschuldigte er sich nicht.

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