Flüchtlingsroute:Wenn Menschen zu Waffen erklärt werden

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Migranten aus Somalia im Wald bei Siemianówka, Polen, an der belarussischen Grenze. (Foto: Kacper Pempel/Reuters)

Belarus instrumentalisiert Migranten gegen die EU. Ein Geheimpapier der Bundesregierung warnte schon im Frühjahr vor solchen Methoden.

Von Georg Mascolo und Ronen Steinke, Berlin

Wie, bitte, soll man das nennen, was der belarussische Diktator Alexander Lukaschenko derzeit an der Ostgrenze der EU treibt? Seit Wochen läuft das schon, Sicherheitskräfte des Diktators setzen Tausende Flüchtlinge gezielt ab, damit diese über Polen unter anderem nach Deutschland reisen. In deutschen Bundesländern, die den Andrang erleben, werden jetzt harte Worte gewählt, von einer "hybriden Kriegsführung" sprach der Innenminister von Brandenburg, Michael Stübgen (CDU), am Mittwoch. Lukaschenko setze Asylsuchende "als Waffe" gegen die EU ein. Das sind scharfe Töne. Aber klar ist auch: Nichts daran ist illegal. Was Lukaschenko tut, verstößt nicht gegen internationales Recht.

Das ist das Vertrackte an dieser Situation. Eine verschwiegene Gruppe in der Bundesregierung beschäftigt sich seit Monaten mit diesem wachsenden Problem: Der Aufbaustab "Strategie-, Analyse- und Resilienz-Zentrum" (SAR), zu dem neben dem Innen- auch das Außen- und das Verteidigungsministerium gehören, untersucht, was diese Fachleute "illegitime ausländische Einflussnahme" nennen. Eine "hybride" Bedrohung - gemeint sind politische Aktivitäten, die sich im Graubereich bewegen, legal, aber illegitim. Sie versuchen, Deutschland zu schädigen - aber auf unkonventionelle Weise. Der belarussische Diktator Lukaschenko, so die Analyse, rächt sich gerade für EU-Sanktionen gegen sein Regime.

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Schon im Frühjahr haben die Beamten dieser SAR-Gruppe, im Kern sind es etwa ein Dutzend, die Lukaschenko-Taktik recht genau beschrieben. Das zeigt ihr 19 Seiten starker, vertraulicher Bericht aus dem April. Fremde Staaten, die "gezielte Steuerung von Migrationsströmen" anstreben, heißt es darin nach Recherchen von Süddeutscher Zeitung, NDR und WDR. Migration werde von solchen Staaten teilweise als "Faustpfand für Verhandlungen" genutzt. Um den Druck auf Deutschland zu erhöhen, würden "Migrationsströme gezielt an einen bestimmten Grenzabschnitt zur EU" gesteuert. Durch Kampagnen in sozialen Medien werde zudem versucht, Migranten zu "massenhaftem Grenzübertritt zu mobilisieren".

"Wir sind nicht im Krieg"

Die Analyse war eigentlich mit Blick auf die Bundestagswahl angefertigt worden. Die Minister Horst Seehofer (CSU), Heiko Maas (SPD) und Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) waren in Sorge, ob es vor der Wahl zu Beeinflussungsversuchen kommen könnte. Alle drei wollten mögliche Szenarien durchdacht und mögliche Handlungsoptionen auf dem Tisch haben.

Im Januar 2021 begann die SAR-Gruppe ihre Arbeit. Noch sei der Missbrauch von Migranten ein "sehr seltenes Phänomen", heißt es im Analysepapier. Aber es gab schon zuvor Beispiele. Etwa sollen türkische Behörden, um den Druck auf die EU zu erhöhen, bewusst das Ablegen von Flüchtlingsbooten in Richtung EU nicht unterbunden haben. Auch soll Russland vor einigen Jahren gezielt unter Tschetschenen das Gerücht verbreitet haben, Deutschland zahle Flüchtlingen ein Begrüßungsgeld.

In Brandenburg übrigens widersprach am Mittwoch die Linken-Abgeordnete Andrea Johlige dem Innenminister wegen dessen Vorwurf der "hybriden Kriegsführung". Damit würden ohne Not falsche Assoziationen geweckt. "Das assoziiert Krieg. Wir sind nicht im Krieg", betonte sie. "Wenn schutzsuchende Menschen als Waffen in der hybriden Kriegsführung gebrandmarkt werden, dann entmenschlicht das und rechtfertigt Notstand und außergewöhnliche Maßnahmen", kritisierte die Politikerin. Dies schaffe Angst und Verunsicherung.

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