Energiewende in Frankreich:Vive l'Atomkraft!

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Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, hier im französischen Belfort, setzt auf Atomenergie. Die Ampelkoalition in Berlin hat das für sich eigentlich ausgeschlossen. Doch jetzt stößt Bundesfinanzminister Christian Lindner eine neue Debatte an. (Foto: Jean-Francois Badias/dpa)

Während Deutschland auf Wind und Sonne setzt, will Präsident Macron den Kampf gegen den Klimawandel mit einem altbekannten Mittel gewinnen: der Atomkraft. Jetzt kündigt er bis zu 14 neue Meiler an.

Von Thomas Kirchner, München

Die Kernkraft in Frankreich soll wieder aufleben. Um bis 2050 die Klimaneutralität zu erreichen, sollten sechs neue Atomkraftwerke vom Typ EPR 2 gebaut werden, kündigte Präsident Emmanuel Macron am Donnerstag im ostfranzösischen Belfort an. Das erste könnte 2035 in Betrieb gehen; den Bau weiterer acht Meiler werde er prüfen lassen. Zugleich werde die Laufzeit aller bestehenden Kernkraftwerke verlängert, wenn die Sicherheit es erlaube. Wie schon früher angekündigt, möchte Macron die Entwicklung von "Small Modular Reactors", die kleiner sind und angeblich sicherer, mit einer Milliarde Euro fördern.

Parallel dazu nimmt Frankreich einen wichtigen Teil der Kraftwerkproduktion wieder in die eigene Hand: Für geschätzte 240 Millionen Euro kauft der Energiekonzern EDF den in Belfort beheimateten Turbinenbau des US-Herstellers General Electric zurück, den dieser erst 2015 von Alstom erworben hatte. Macron hielt seine Rede vor einer der dort hergestellten riesigen Arabelle-Turbinen, die in französischen und einigen russischen Meilern verwendet werden.

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Mit diesem Plan Macrons geht Frankreich endgültig einen dezidiert anderen Weg als Deutschland, das bald seine letzten Atommeiler abschalten wird. Frankreich hat derzeit 56 Atomkraftwerke in Betrieb, die knapp 70 Prozent des Stroms liefern. Ein Drittel ist älter als 40 Jahre und nähert sich dem Ende der Laufzeit.

Zwei Drittel der französischen Energie kommen noch immer aus fossilen Brennstoffen wie Öl und Gas

Macrons Rede in Belfort ist der letzte einer Reihe von Schritten, mit denen der Liberale eine Renaissance der Atomkraft in seinem Land einleiten möchte. Dazu zählen ein Auftritt vor Beschäftigten des Atomkonzerns Framatome in Creusot Ende 2020, die Aufnahme der Atomkraft - mit Fokus auf Innovationssuche - in das Industrieförderungsprogramm France 2030 sowie eine TV-Rede im vergangenen November, in der Macron Details aber noch offen ließ. Immer wieder nannte Macron die Atomkraft einen "Trumpf" und ein "Glück" für Frankreich. Es gehe um Entscheidungen, die das Land noch Jahrzehnte, vielleicht das ganze Jahrhundert über beschäftigen würden, sagte Macron am Donnerstag. Man dürfe sie nicht überstürzen.

Emmanuel Macron mit Mitarbeitern des Turbinenwerks in Belfort. (Foto: Jean-Francois Badias/AFP)

Zwei Drittel des französischen Energieverbrauchs beruhen noch immer auf fossilen Brennstoffen wie Öl und Gas. Dieser Anteil müsse bis 2030 komplett ersetzt werden, betonen Macrons Berater, gleichzeitig werde mehr Strom benötigt, und die Kosten für die Verbraucher sollten nicht zu hoch werden. Das alles könne nur gelingen, wenn beim Verbrauch 40 Prozent eingespart und die erneuerbaren Energien ausgebaut, aber eben auch die Atomkraft weiterhin genutzt werde. Das alles müsse zur gleichen Zeit geschehen, sagte Macron in Belfort. Die Produktion aus Erneuerbaren solle bis 2030 verdoppelt werden. Geplant sind unter anderem 50 neue Windparks im Meer bis 2050. In französischen Medien wurde das als überraschend ambitioniertes Vorhaben gewertet - und als Versuch, auch nuklearskeptische Bürger mitzunehmen.

Auch anderswo in Europa ist Kernkraft wieder beliebter

Neben dem Klimafaktor, den die französische Regierung als entscheidend hervorhebt, soll die Atomkraft mehr Unabhängigkeit bringen, ganz im Sinne der "europäischen Souveränität", für die sich Macron einsetzt. Frankreich ist eines der wenigen Länder, die den gesamten atomaren Brennstoffzyklus in nationaler Hand haben, von der Uran-Förderung etwa in Niger über den Kraftwerkbau bis zur Wiederaufbereitung von Brennstoff.

Unterstützt wurde dieser Ansatz von Ministern aus neun weiteren europäischen Ländern in einem gemeinsamen Text im vergangenen Oktober. Neben Frankreich und Finnland waren ausschließlich mittel- und osteuropäische Staaten vertreten. In Frankreich überwiegt jedoch die Wahrnehmung, dass die Atomkraft auch in anderen Teilen Europas wieder attraktiver werde. Das trifft zumindest auf die Niederlande zu, deren Regierung den Bau zweier neuer Meiler propagiert, auch hier mit Verweis auf das Klima. In Belgien wackelt der Beschluss, bis 2025 auszusteigen. Viele würden "die Notwendigkeit einsehen", sagt EDF-Chef Jean-Bernard Lévy, selbst Menschen, die "den Widerstand gegen die Atomkraft im Blut" hätten.

Massiv unterstützt wird die geplante Wiederauferstehung der französischen Nuklearindustrie durch den Vorschlag der EU-Kommission, Atomkraft und Gas als grüne, nachhaltige Energie zu bezeichnen, wie Sonne und Wind. Der Text zur "Taxonomie" liegt seit dem Jahreswechsel auf dem Tisch, es ist abzusehen, dass weder die EU-Staaten noch das Europäische Parlament ihn substanziell verändern werden. Das wird Investitionen in die Atomkraft attraktiver machen und die gewaltigen Finanzierungskosten, die auf die französischen Steuerzahler zukommen, vermutlich kräftig senken. Die Bundesregierung lehnt die Brüsseler Vorlage ab, kann sie aber mangels Mehrheit nicht verhindern.

Im Élysée wird betont, dass die Atom-Entscheidung keine rein politische sei, sondern auch wissenschaftlich untermauert. Dabei wird auf den von Macron bestellten Bericht des Netzbetreibers RTE verwiesen, der im Herbst veröffentlicht wurde. Experten wägen darin Kosten und Aufwand verschiedener Szenarien der Energiegewinnung in den kommenden Jahrzehnten ab und kommen zu dem Schluss, dass die gewünschte Dekarbonisierung ohne einen Neubau von Atomkraftwerken letztlich aufwendiger und vor allem teurer wäre. RTE ist zur Hälfte in Besitz von EDF.

Der Auftritt Macrons bedeutet einen gewaltigen Anschub für die französische Atomindustrie und wird vom Élysée auch entsprechend verstanden. Die Branche mit ihren 220 000 Beschäftigten in 2600 Unternehmen hat Hilfe nötig und in den vergangenen Jahren eindringlich danach verlangt. Atomkraft ist eine der Schlüsselindustrien Frankreichs, die nach dem Zweiten Weltkrieg auch dazu dienen sollte, dem Land seine Größe und Bedeutung zurückzugeben, parallel zum militärischen Aspekt, der Anschaffung von Nuklearwaffen. Seit de Gaulles Zeiten entstand, in den Worten der US-Expertin Gabrielle Hecht, ein "technopolitisches Regime", ein Zusammenspiel von Institutionen, Plänen, Diskursen, technischen Entwicklungen.

Das Ergebnis war die noch immer drittgrößte französische Industrie, eine Art nationaler Mythos, getragen von festem Fortschrittsglauben und einer deutlich höheren Risikobereitschaft als etwa in Deutschland. Kein Präsident hat dieses Regime substanziell infrage gestellt; allein François Hollande setzte sich nach dem Unglück von Fukushima für eine Reduktion des Atomkraft-Anteils auf 50 Prozent bis 2025 ein, ein Datum, das sein Nachfolger Macron um zehn Jahre nach hinten verlängern ließ. Es wäre der niedrigste Stand seit 1985.

Die rechte Konkurrenz setzt sich im Wahlkampf ebenfalls für die Kernkraft ein

In den vergangenen Jahren lag über der französischen Atombranche ein Hauch von Niedergang. Das letzte von ihr gebaute Atomkraftwerk wurde vor mehr als 20 Jahren in Betrieb genommen. Große Probleme gab es beim Bau von Druckwasser-, sogenannten EPR-Reaktoren der dritten Generation in Finnland und in Flamanville in der Normandie. Dort hatte man 2007 begonnen. Wegen technischer Probleme dauert die Fertigstellung sehr viel länger und wurde sechsmal teurer als geplant. Zuletzt hat sie sich abermals verzögert und ist nun für 2023 vorgesehen. EDF, das mit Abstand wichtigste Unternehmen der Branche und zu 84 Prozent in Staatshand, ist inzwischen mit mehr als 40 Milliarden Euro verschuldet.

Dazu kommen aktuelle Nöte: Am Dienstag gab EDF bekannt, dass demnächst acht Reaktoren wegen Korrosion an Leitungen außerplanmäßig abgeschaltet werden müssten. Die Stromproduktion aus Atomkraft wird dadurch voraussichtlich auf den niedrigsten Stand seit 30 Jahren fallen. Branchenkenner wie der Energieberater Mycle Schneider haben denn auch große Zweifel an Macrons Plänen. Die technischen und finanziellen Probleme der Atomkraft seien so groß, dass der langfristige Niedergang der Branche nicht abgewendet werden könne, sagt Schneider.

Macron ist seit 2017 im Amt. Es gilt als sicher, dass er bei der Präsidentschaftswahl im April wieder antritt, bis Ende des Monats müsste er die Kandidatur anmelden. In Umfragen führt er deutlich, und die Belfort-Rede dürfte ihm weiteren Auftrieb geben. Seine wichtigsten Konkurrenten auf der Rechten setzen sich vehement für die Atomkraft ein. Der Élysée dementierte energisch, dass der Zeitpunkt der Rede mit der bevorstehenden Wahl zusammenhänge. Das Thema müsse jetzt behandelt werden, der Präsident habe das noch vor Ende seiner Amtszeit erledigen wollen. Ursprünglich hatte die Entscheidung über die Zukunft der Atomkraft erst nach Inbetriebnahme des Werks in Flamanville getroffen werden sollen.

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