Prantls Blick:Ein Gesetz, das Angst und Schrecken bringt

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Das in Bayern beschlossene Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz behandelt psychisch kranke Menschen wie Straftäter. Wer traut sich da noch, mit Depressionen um Hilfe zu rufen?

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Dieser Brief ist ein sorgenvoller Brief, ein Brandbrief. Warum? In meinen dreißig Jahren als Journalist habe ich viel Kritik an Gesetzen erlebt und selber geübt. Aber nie war die Kritik aller Beteiligten und Betroffenen so massiv, so einhellig, so besorgt, so empört, so entsetzt wie zu diesem Gesetz: Das vom bayerischen Ministerrat schon beschlossene Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz ist ein Gesetz, das psychisch kranke Menschen in die Nähe von Straftätern rückt und sie wie Straftäter behandelt.

Ein Krankenhaus ist kein Ort für Stigmatisierung

Es ist ein Gesetz, das psychisch Kranke zu Gefährdern erklärt, das ihre Ärzte zu Hilfspolizisten und die psychiatrischen Krankenhäuser zu Verwahranstalten macht. Die Menschen, die von diesem "Hilfe-Gesetz" betroffen sind, sollen nach den Regeln des Kriminalrechts in den psychiatrischen Krankenhäusern festgehalten und der Polizei gemeldet werden. Für psychisch Kranke gelten in der Klinik dann die Regeln des Strafvollzugs, die Regeln des Maßregelvollzugs und die Regeln der Sicherungsverwahrung. Ihre Entlassung soll der Polizei annonciert, ihre Krankheitsdaten sollen in einer zentralen Datei gespeichert und von den Sicherheitsbehörden abgerufen werden können. Wer traut sich da noch, mit Depressionen um Hilfe zu rufen, wer traut sich in Ausnahmesituationen um Intervention zu bitten? Er muss damit rechnen, dass ihm aus seiner Krankheit ein Strick gedreht wird, dass er in einem Staatsberuf nicht eingestellt oder dass er nicht befördert wird. Ein Krankenhaus ist aber ein Ort, an dem geheilt werden soll - nicht stigmatisiert.

Acht Millionen Menschen in Deutschland leiden an einer psychischen Krankheit; 1,2 Millionen werden stationär behandelt; 120 000 sind zur Diagnose und Therapie untergebracht - davon derzeit zehn Prozent gegen ihren Willen. Sie werden von so einem Gesetz in Angst und Schrecken versetzt. Und weil der Ministerpräsident, unter dessen Ägide dieses Gesetz entstanden ist, jetzt Bundesinnenminister ist, muss man fürchten, dass der Ungeist dieses Gesetzes bundesweit zu spuken beginnt. Entweder Horst Seehofer weiß nicht, was da zu seiner Zeit als Regierungschef von seinen Sozial- und Gesundheitsministerien ausgebrütet worden ist; dann ist es schlimm. Oder er weiß es und hat es gebilligt, dann ist es noch schlimmer.

Ein Missbrauch der Psychiatrie

Vor kurzem haben mich die ärztlichen Direktoren dreier großer psychiatrischer Kliniken in Bayern in meinem Büro in der Süddeutschen Zeitung aufgesucht - in allergrößter Sorge. Sie warnten eindringlich davor, aus einem Krankenhilfegesetz ein Sicherheitsgesetz, ein Polizeigesetz, zu machen. Sie sahen eine Grundregel ihres ärztlichen Handelns in Gefahr. Diese Grundregel lautet: Es dürfen nur solche Kranke zwangsweise in der Psychiatrie untergebracht und behandelt werden, die nicht selbstbestimmungsfähig sind - nur die also, die nicht mehr Herr ihrer Sinne sind, die nicht mehr wissen, was sie tun und deswegen Schutz brauchen; Schutz für sich und ihre Mitmenschen. Für sie ist das Unterbringungsrecht da. Es ist nicht dafür da, Gefährder festzusetzen; dafür gibt es das Polizeirecht und das Strafrecht.

Psychiatrische Krankenhäuser sind Krankenhäuser - keine Verwahranstalten im Auftrag der Sicherheitsbehörden; sie dürfen es nie werden. Ein Gesetz, das sich als Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz bezeichnet, aber ausdrücklich der Gefahrenabwehr dienen soll, ein Gesetz, das Ärzte zum Einfangen und Festhalten von angeblichen Gefährdern missbraucht, ist ein Missbrauch der Psychiatrie.

Maß und Ziel verloren

Das ist so unmittelbar einsichtig, dass man sich fragt, wie ein so suspektes Vorhaben überhaupt Gesetzesreife erlangen konnte. Das liegt daran, dass die CSU-Politik in ihrem Sicherheitsrausch Maß und Ziel verloren hat. Fünfzig Jahre nach dem Erlass der Notstandsgesetze auf Bundesebene produziert die CSU bayerische Notstandsgesetze, die zu ihrem Einsatz einen Notstand nicht mehr als Voraussetzung haben. Sie werden mit der Terrorgefahr begründet, sind aber bei ihrer Durchführung vom Terror losgelöst - für die Zugriffe und Eingriffe genügt die "drohende Gefahr" jeglicher Art.

Konkret muss die Gefahr gar nicht sein - aber der Polizei wird es gleichwohl erlaubt, Post sicherzustellen, Telekommunikation abzuhören, Daten auszulesen, auch aus der Cloud, verdeckte Ermittler einzusetzen, mit Drohnen zu filmen; Polizisten dürfen Bodycams einsetzen, selbst in Wohnungen; sie dürfen in die Genspuren hineinschauen, um Haar-, Haut- und Augenfarben festzustellen. Jeder, der einem Polizisten mit Bodycam begegnet, muss künftig damit rechnen, dass er erfasst und gerastert wird.

Das geplante neue Polizeiaufgabengesetz, das im Mai verabschiedet werden soll, ist das schärfste, umfassendste, grundrechtsverbrauchendste Polizeigesetz der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte. Es räumt der Polizei Rechte in einer Zahl und in einer Eingriffstiefe ein, die es in dieser Dimension noch nie gegeben hat - und dies wird auf ein Polizeigesetz draufgesattelt, das erst vor einem knappen Jahr kräftig ausgeweitet wurde: Damals wurde, einmalig in der Bundesrepublik, ein zeitlich unbegrenzter Unterbindungsgewahrsam eingeführt - schon vorher stand Bayern mit einer bis zu 14-tägigen Polizeihaft an der Spitze solcher Haftzeiten in Deutschland. Nun ist aus den 14 Tagen jedenfalls theoretisch eine Unendlichkeitshaft geworden - für den Unterbindungs- oder Vorbeugegewahrsam, genannt Polizeihaft, gibt es keine zeitlichen Grenzen mehr.

Potenzielle Normabweichungen aufspüren

Das neue bayerische Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz muss im Kontext des neuen bayerischen Polizei- und Sicherheitsrechts gesehen werden; es ist ein Teil davon. Das Ganze formt sich zu einem neuen Präventions- und Sicherheitsrecht, das das klassische Straf- und Sicherheitsrecht hinter sich lässt. Es geht um die Errichtung eines Frühwarnsystems, das Regungen potenzieller Normabweichung aufspürt, das Auffälligkeiten registriert, das den terroristischen Gefährder, den Dieb, den Sprayer schon erkennt, bevor er sich entschließt, wirklich einer zu sein. Es geht um ein System, das flächendeckend und umfassend Signale und Daten einfängt und sicherheitshalber speichert, um daraus Erkenntnisse zu gewinnen. Es entsteht ein einheitliches, vernetztes Sicherheitssystem, in dem geheimdienstliche, aber rechtsstaatlich wenig kontrollierte Ermittlungsmethoden allgemeiner Standard werden.

Es werden, und das ist der Preis dieses Frühwarnsystems, ohne konkreten Anlass und ohne konkrete Anhaltspunkte solche Mittel zum Einsatz gebracht, die bisher im Strafrecht nur gegen Verdächtige möglich waren. Weit im Vorfeld einer Straftat sollen nun also geringere Anforderungen an einen massiven Grundrechtseingriff gelten als dann, wenn der Täter schon zur Tat angesetzt hat.

Sicherheit XXL, Grundrechte XXS?

Je weiter eine konkrete Tat entfernt ist, umso mehr ist dem Staat erlaubt: Das ist die neue Regel der Prävention. Sie sprengt alle bisherigen rechtsstaatlichen Regeln. Bayern ist damit nicht allein, es gibt das alles auch in Bundesgesetzen und den Polizeirechten anderer Bundesländern. Aber nirgendwo ist das alles so weit vorangetrieben wie im neuen bayerischen Polizeirecht - ohne Rücksicht auf Kranke, ohne Rücksicht auf rechtsstaatliche Verluste. Man muss fürchten, dass das, unter Anleitung des bayerischen Bundesinnenministers, in ganz Deutschland Schule macht. Deshalb ist dieser Brief eine Warnung vor der Banalisierung der Grundrechte. Sicherheit XXL, Grundrechte XXS? Das ist ein schlechtes Motto für einen Rechtsstaat.

Über dem Eingang der wunderbaren Klosterkirche Polling in Oberbayern steht der berühmte Spruch "Liberalitas Bavarica" - der als Ausdruck bayerischer Lebensart gilt und gern falsch übersetzt wird. So falsch wie in den neuen bayerischen Gesetzen aber ist dieser Spruch noch nie übersetzt worden. Man muss ihn eigentlich jetzt durch "Brutalitas Bavarica" ersetzen.

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