Um das Ganze mal einzuordnen, sollte man vielleicht mit einer Zahl anfangen: 38,2 Prozent der Menschen in Europa leiden mindestens einmal im Jahr an einer psychischen oder neurologischen Erkrankung, so besagt es die wichtigste und größte epidemiologische Studie zum Thema im Fachmagazin European Neuropsychopharmacology.
Unglaublich? Aber wieso denn? So ungefähr hundert Prozent der Menschen leiden mindestens einmal im Jahr an einer körperlichen Störung. "Warum sollten Gehirn und Nervensystem seltener betroffen sein als andere, weniger komplexe Organbereiche?" fragt Frank Jacobi von der Psychologischen Hochschule Berlin.
Depression, Angst und emotionale Aufruhr gehören zum Menschsein so wie Schnupfen, Knochenbruch und Herzinfarkt. Insofern ist es unsinnig, wenn psychisch kranke Menschen stigmatisiert oder ausgegrenzt werden, so wie es jetzt in der Reform des bayerischen Psychisch-Kranke-Hilfe-Gesetzes und der umstrittenen Unterbringungsdatei vorgesehen ist.
Deshalb reden Psychiater offiziell lieber von psychischen Störungen
Die in der Europa-Studie genannte Zahl klingt sehr hoch. Das liegt aber daran, dass sie wirklich alle Diagnosen von Alzheimer bis Sucht erfasst hat. Auch wer etwa Panik vor Spinnen hat, leidet per Definition an einer psychischen Störung, ist aber meist nicht weiter beeinträchtigt, wenn er nicht gerade unter Taranteln im Dschungel lebt. Aber auch die ernsthaften Krankheiten sind weit verbreitet: 10,9 Prozent der Erwachsenen in Deutschland leiden laut Bundes-Gesundheitsstudie mindestens einmal im Jahr an einer Depression, 14,2 Prozent an einer klinisch relevanten Angststörung, einer von hundert Menschen erkrankt in seinem Leben an Schizophrenie. Psychische Störungen sind Volkskrankheiten.
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Das Problem liegt eher darin, die Grenze zwischen einem noch gesunden und einem pathologischen Zustand zu definieren. "Leider gibt es in der Wissenschaft keinen Konsens darüber", sagt der Philosoph Thomas Schramme von der University of Liverpool, der zu dem Thema geforscht hat. "Deshalb reden Psychiater offiziell lieber von psychischen Störungen."
Solche Störungen lägen vor, wenn das Denken, Fühlen, Verhalten oder die sozialen Beziehungen krankhaft beeinträchtigt und nicht mehr kontrolliert werden könnten, so der Konsens. Aber was ist krankhaft? Klar ist die Sachlage, wenn jemand vor lauter Angst nicht mehr die Wohnung verlässt oder der Ansicht ist, CIA-Agenten hätten ihm einen Chip ins Hirn gepflanzt. Wann aber wird aus einem schlimmen Liebeskummer eine behandlungsbedürftige Depression? Ist der Teenager nur schüchtern, oder leidet er unter Sozialphobie? Ist die Freundin zickig oder eine emotional-instabile Persönlichkeit?
Die psychiatrischen Diagnosekataloge klassifizieren zum Unbehagen der Wissenschaft Patienten allein nach Symptomen, obwohl diesen Symptomen wahrscheinlich unterschiedliche Störungen zugrunde liegen. Eine Depression zum Beispiel wird laut DSM-5 (dem US-amerikanischen, in der Forschung verwendeten Katalog) diagnostiziert, wenn mindestens zwei Wochen lang fünf der folgenden Symptome vorliegen: (1) depressive Verstimmung, (2) keine Freude an Aktivitäten, (3) Appetitlosigkeit, (4) Schlafstörungen, (5) psychomotorische Auffälligkeiten, (6) Müdigkeit, (7) Schuldgefühle, (8) Konzentrationsstörungen, (9) Suizidalität.
Ein Häkchen mehr oder weniger kann entscheidend sein. Und bei jedem Symptom kommt die gleiche Frage: Ab wann wird es pathologisch? Ist die Lustlosigkeit des Partners Faulheit oder erfüllt sie bereits Punkt 2 der Checkliste? Diese Frage wird sich auch nicht klären lassen, wenn, wie in den nächsten Jahren zu erwarten, biologische Marker entwickelt werden. Sie werden wahrscheinlich das Klassifikationssystem durcheinanderwirbeln. Aber das befreit nicht von der Notwendigkeit, qualitativ zu klären, was ein unerwünschter psychischer Zustand ist, der behandelt werden muss. Und wer entscheidet darüber - der Betroffene, der Arzt, oder gar die Gesellschaft? Dann kann es passieren, dass man Homosexualität zur Krankheit erklärt, wie es der Diagnosekatalog bis in die 70er Jahre hinein tat.
Philosoph Schramme definiert eine psychische Krankheit als etwas, was zu einem nicht funktionierenden Leben und zu einem beeinträchtigten Wohlergehen führt: "Kann der Betroffene Freude empfinden, schafft er es, sich zum Handeln zu motivieren." Das Problem der Grenzwerte bleibt und zeigt zugleich, dass Normalität und Störung nicht weit voneinander entfernt sind.
Insofern ist es Unsinn, psychisch kranke Menschen als die ganz Anderen zu sehen, die womöglich sogar besonders gefährlich seien. Zwar verschweigen viele Psychiater aus Sorge vor der Stigmatisierung ihrer Patienten, dass etwa an Schizophrenie und manchen Persönlichkeitsstörungen erkrankte Menschen im Wahn durchaus etwas häufiger gewalttätig werden. Auch bei depressiven Männern gibt es - allerdings umstrittene - Indizien dafür. Doch das sind große Ausnahmen.
Sicher falsch ist der Umkehrschluss, dass schwere Gewalttäter automatisch eine psychische Störung haben müssen. In der Regel sind gerade depressive Menschen eher energielos und passiv. Sie sind - wie Studien gezeigt haben - viel häufiger Opfer als Täter.