20. Juli 1944:"Für Hitlers 'Inner Circle' war der Attentatsversuch ein Schock"

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Der Attentäter und der Diktator: Claus Schenk von Stauffenberg und Adolf Hitler auf dem Gelände der "Wolfsschanze" am 15. Juli 1944. Fünf Tage später missglückte Stauffenbergs Attentat. (Foto: AFP)

Die Historikerin Heike B. Görtemaker beschreibt, warum der Diktator nach dem missglückten Putsch Zuversicht schöpfte - und wie der Österreicher vor der Machtergreifung von reichen Gönnern systematisch aufgebaut wurde.

Interview von Oliver Das Gupta

Vor 75 Jahren hat Nazi-Diktator Adolf Hitler die Explosion einer Bombe überlebt, die der Wehrmachts-Offizier und Widerstandskämpfer Claus Schenk von Stauffenberg im Führerhauptquartier nahe des ostpreußischen Rastenburg platziert hatte. 25 Jahre zuvor, im Sommer 1919, hatte Hitlers politische Karriere begonnen, als er von der Propagandaabteilung der Reichswehr in München engagiert worden war.

Die Potsdamer Historikerin Heike B. Görtemaker befasst sich seit Jahren mit dem engsten Umfeld Hitlers und hat bei ihren Recherchen auch unerschlossene Quellen erschlossen. Ihre Biografie über Eva Braun wurde zum internationalen Bestseller, zuletzt erschien "Hitlers Hofstaat" (C.H.Beck, München 2019).

SZ: Frau Görtemaker, wie hat Hitlers engstes Umfeld auf das missglückte Attentat reagiert?

Für den "Inner Circle" war der Attentatsversuch ein Schock. Erst vier Tage zuvor war Hitler wieder in sein Hauptquartier, die "Wolfsschanze" bei Rastenburg, zurückgekehrt, nachdem er sich angesichts des Scheiterns an der Ostfront und der bevorstehenden Invasion alliierter Truppen im Westen seit Februar 1944 für beinahe fünf Monate mit seinem vertrauten Kreis in seine Alpenresidenz zurückgezogen hatte.

Zum Zeitpunkt des Attentats war ja längst absehbar, dass der Krieg verloren gehen würde.

Sicher, nur diejenigen, die Hitler alles verdankten - Karriere, sozialen Aufstieg, Vermögen - und mit ihrer Existenz an sein Leben gebunden waren, klammerten sich an die Hoffnung, die Niederlage im letzten Moment noch abwenden zu können. Nach dem missglückten Attentat reagierten sie mit Panik, fragten sich, was aus ihnen werden solle, wenn Hitler tot ist. Er galt ihnen als "Garant und Symbol" des NS-Staates und es herrschte Fassungslosigkeit angesichts des "Verrats". Alle versicherten sie ihm ihre Treue. Speer und Goebbels drängten bei Hitler auf eine weitere Verschärfung der Kriegsanstrengungen.

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Nach dem Krieg dauerte es einige Jahre, bis in der jungen Bundesrepublik Stauffenberg und die anderen Widerstandskämpfer des 20. Juli den Ruch des Verrats loswurden. Inwiefern hatten Hitlers Wegbegleiter wie Speer daran Anteil?

Die überlebenden Angehörigen des inneren Kreises waren in der Nachkriegszeit gefragte Gesprächspartner von Historikern und Journalisten. Durch die Lücke fehlender Aktenbestände, die im Krieg zerstört oder von den Alliierten beschlagnahmt worden waren, wurden einst engste Mitstreiter Hitlers nun zu Zeitzeugen und Lieferanten von Dokumenten. In der nach 1948/49 erschienenen Vielzahl an Memoiren, in denen sich das Establishment des "Dritten Reiches" vom Nationalsozialismus distanzierte und neu erfand, schwiegen Protagonisten wie eben Speer oder der frühere Reichspressechef Otto Dietrich über ihre eigene Rolle nach dem 20. Juli und taten darin so, als sei es allein Hitler gewesen, der anschließend auf der gnadenlosen Verfolgung der "Verschwörer" und der Forcierung der Kriegsanstrengungen bestanden habe.

Hitler sprach immer wieder von einer "Vorsehung", die ihm auch am 20. Juli 1944 das Leben gerettet habe. Wie kam er überhaupt darauf, von übersinnlichen Mächten geschützt zu sein?

Im Frühjahr 1944, nach dem endgültigen Scheitern des von Hitler angekündigten "Blitzkrieges" gegen die Sowjetunion, war die Aura des vom Schicksal auserwählten, genialen "Führers" bereits der Schmach eines Verlierers gewichen. Als er das Attentat überlebte, riss ihn diese Tatsache noch einmal aus seiner Lethargie, erfüllte ihn mit neuer Zuversicht, gestützt von seinem vertrauten Kreis und alten Mitstreitern, die ihn darin bestärkten und ihn als "Held des 20. Juli" feierten.

Wann begann Hitler zu glauben, vom Schicksal zu einer historischen Aufgabe bestimmt zu sein?

Hitlers Stilisierung zum "Führer" der Deutschen, der eine Mission zu erfüllen habe, begann in den frühen 1920er Jahren, als ihm Freunde und ein vermögender Gönnerkreis einredeten, er habe das Zeug zum Herrscher, der das wirtschaftlich und moralisch am Boden liegende Land wieder aufrichten werde. Quasi-religiöse Begründungen, die Hitler später immer wieder anführte, zeigen, bei aller Eitelkeit und Selbstbezogenheit, die Unsicherheit des einstigen Männerheimbewohners aus Wien. Hitler war zu einer Projektionsfläche für die nationalistischen Sehnsüchte anderer geworden, war letztlich der zur Macht Verführte.

Sie meinen also, dass Hitler eher passiv in seine Rolle hineingehoben wurde?

Ja, es waren die frühen Gönner, die seinen Aufstieg erst möglich gemacht haben. Hitler suchte sich zu Beginn seiner politischen Karriere diese Leute nicht aus. Es war andersherum. Einflussreiche Personen wählten ihn aus, um ihre politischen Ziele durchzusetzen. Diese Förderer investierten in ihn als politischen Hoffnungsträger. Sie scharten sich um einen rhetorisch begabten Mann, der die Weimarer Republik besonders gnadenlos mit Worten attackieren konnte. Es waren diese Gönner und Freunde, die in ihm Machtgelüste erweckten, die sein Selbstbewusstsein stärkten und ihn auf einen Schild hoben. Sie waren es, die in Hitler die Idee setzten, dass er Kanzler kann, sie erklärten ihn zum "Führer".

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Bleiben wir in dieser frühen Phase. Im Ersten Weltkrieg galt Hitler in seiner Einheit als "spinnerter Österreicher". Wie kam der Einzelgänger Hitler wenige Jahre später überhaupt zu seinem persönlichen Umfeld?

Bald nach Niederschlagung der Münchner Räterepublik im Frühjahr 1919 entstand ein erster Zirkel um Hitler. Ausgangspunkt war die Propagandaabteilung der Reichswehr, die vor 100 Jahren, im Juli 1919, eingerichtet worden war. Nach und nach lernte er in dieser frühen Phase wichtige Leute kennen: Etwa Dietrich Eckart, der ihn mit Finanziers bekannt machte, den Bechsteins, die als Klavierfabrikanten zu viel Geld gekommen waren. Alfred Rosenberg zählte dazu, der spätere Nazi-Ideologe, ebenso der Fotograf Heinrich Hoffmann. Und natürlich der Offizier Ernst Röhm, der die SA zur schlagkräftigen Partei-Miliz aufbaute.

1923 versuchte Hitler den Umsturz, doch sein Putschversuch endete kläglich, die NSDAP wurde verboten. Warum setzten seine Gönner weiterhin auf den gescheiterten Österreicher?

Sie waren offenkundig nach wie vor von seinem Potential überzeugt. Gut sichtbar wird sein enger Zirkel, als Hitler 1923/24 in der Festungshaft in Landsberg sitzt. Nicht nur seine Mitputschisten, sondern auch die Bechsteins, die Wagners aus Bayreuth und das Verleger-Ehepaar Bruckmann scharen sich um ihn. Privates und Politisches flossen da ineinander.

Sie vertreten die These, dass Hitler vor der Machtergreifung ohne sein Umfeld aufgeschmissen gewesen wäre. Welche Belege finden sich dafür?

Private Briefwechsel dokumentieren etwa, wie abhängig Hitler von seinem Anhang war. Seine Gönner finanzierten seinen Unterhalt, staffierten ihn aus, zahlten seine Hotelübernachtungen. Hitler wäre alleine nicht von A nach B gekommen, wenn nicht jemand für einen Wagen gesorgt hätte. In den meisten Büchern und Studien, die sich mit Hitler beschäftigen, werden diese Gefolgsleute zu Randfiguren degradiert. Die Rolle der Frauen als Aktivistinnen und Mäzeninnen wird oft ausgeblendet. Soweit sie überhaupt in der Literatur auftauchen, werden sie auf eine Ersatz-Mutterrolle und Gefühlsüberschwänge reduziert.

Welchen Einfluss hatten denn diese Anhängerinnen auf seinen Aufstieg?

Die Frauen um Hitler waren finanziell, politisch und emotional enorm wichtig für seinen Aufstieg. Die vorherrschende Vorstellung, Hitler sei ein sozial gestörtes, anormales Wesen ohne Bindungen gewesen, das allein eine beispiellose Machtfülle erarbeitet habe, daran hat sich bis heute wenig geändert. Joachim Fest hat von einem "menschenleeren Raum" um Hitler gesprochen. Tatsächlich war das nicht der Fall. Hitler war nie allein, er traute sich auch gar nicht, etwas alleine zu machen.

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Die Zusammensetzung des Kreises um Hitler änderte sich nach der Machtergreifung 1933 und der Etablierung der Diktatur grundlegend. Wie kam es dazu?

Hitler stellte seinen Hofstaat aus Gründen um, die sich nachvollziehen lassen. Bislang waren Leute um ihn herum gewesen, die ihn gefördert, beraten und begleitet hatten, denen er etwas schuldete und von denen er abhängig war. Nun umgab er sich mit Menschen, die ihm ihre Karriere verdankten und deshalb in einer besonderen Loyalitätsbeziehung zu ihm standen. Frühe Gönner und Vertraute wurden fortan auf Distanz gehalten.

Der alte Zirkel um Hitler hatte ihn aufgebaut, welche Aufgabe hatte sein neues Umfeld?

Mit diesem Kreis auf dem Obersalzberg schottete er sich ab, schuf Distanz zu den Mächtigen des NS-Staates. Er diente der Bestätigung seines Selbstbildes als Künstler und genialer Staatsmann und er war vielseitig einsetzbar. Etwa 1938, als kurz vor dem "Anschluss" Österreichs aus Wien der österreichische Bundeskanzler Kurt Schuschnigg auf den Berghof kam und Hitler ihn erpresste.

Hitler brauchte also ihre Anwesenheit, um sich emotionalen Rückhalt zu holen.

Nicht nur das. Diese Leute waren auch Akteure. Hitlers Partnerin Eva Braun etwa fungierte als Teil der Propagandamaschinerie, sie setzte ihn in Szene in Bildern und Filmen, die auf dem Berghof entstanden. Der Architekt Albert Speer und der SS-Arzt Karl Brand gehörten nicht nur zum Kern des Hofstaates, sondern wurden zu Vollstreckern von "Sonderaufträgen" und beteiligten sich beide aktiv an der Rassenpolitik des Regimes.

Brand organisierte die Ermordung von Behinderten und psychisch kranken Menschen, Speer managte als Minister später die Rüstungswirtschaft für den totalen Krieg, bei dem systematisch Häftlinge durch Arbeit vernichtet wurden.

So ist es. Speer, Brand, aber auch Eva Braun und Hitlers Adjutant Nicolaus von Below waren Zeugen und Überzeugte. Alle hatten eine Funktion und funktionierten auch als Gruppe, wie sich am Ende des Krieges zeigte. Hitler trat kaum noch öffentlich auf, agierte in seinen Reden schwach und fahrig, ließ sich bei Auftritten von Vertrauten - Goebbels oder Hermann Esser - vertreten. Speer, Brandt und Martin Bormann bauten ihre Machtstellungen aus. Hitler konnte ohne diese Leute nicht agieren.

Gibt es viele Entscheidungen Hitlers, die auf seinen späten Freundeskreis zurückgehen?

Wir wissen bis heute nicht, wie Entscheidungsfindung und Beauftragung im unmittelbaren Umfeld Hitlers abliefen. Da Aufträge oft mündlich erteilt wurden, fehlen schlichtweg die Quellen. Auf diese Weise konnten Leute wie Albert Speer nach dem Krieg ihre eigenen Narrative in die Welt setzen, die noch heute das vorherrschende Hitler-Bild prägen.

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