"Das Herz wollte mir fast vor Freude zerspringen", behauptet Adolf Hitler in seinem Pamphlet Mein Kampf. "Eine zweitausend Menschen zählende Masse" habe sich im Festsaal des Münchner Hofbräuhauses eingefunden.
Der Taugenichts aus dem oberösterreichischen Braunau hat an jenem 24. Februar vor 90 Jahren Großes vor. Seine nur ein paar hundert Mitglieder zählende "Deutsche Arbeiterpartei" ergänzt ihren Namen um "Nationalsozialistisch".
Hitler selbst darf das Programm der NSDAP verkünden. Der spätere Diktator gehört zwar nicht zur Parteispitze. Noch nicht. Aber er besitzt etwas, das den anderen Partei-Honoratioren abgeht: Redegabe.
Putschversuch in München:9. November 1923 - Hitlers vergeblicher Griff nach der Macht
Fünf Jahre nach dem Ersten Weltkrieg versucht Adolf Hitler von München aus, die Macht in Deutschland an sich zu reißen. Bilder aus dem Archiv von SZ Photo.
Welche Teile des 25-Punkte-Programms Hitler selbst formuliert hat, ist unklar, sagt der Bochumer Historiker Armin Nolzen, wozu es gedient hat, liege allerdings auf der Hand: "Es ist ein Catch-all-Programm", für fast jeden ist etwas dabei: "Die Brechung der Zinsknechtschaft", zielt auf das Arbeitermilieu, die Forderung nach Zurücknahme des Versailler Friedensvertrages auf Konservative. Von "zersetzender" Kunst und Literatur ist die Rede, um den Hassern des Bürgertums zu gefallen.
Antisemiten finden sich unter anderem in Punkt 4 wieder: "Kein Jude kann (...) Volksgenosse sein", verkündet Hitler im Hofbräuhaus. Worauf der Schreihals hinaus will, ahnen wohl damals die wenigsten Zuhörer. Die monströsen Verbrechen zeichnen sich an jenem bierseligen Winterabend deutlich ab.
Hitlers Rezept: Antisemitismus und Gewalt
Die Partei, bislang eine der unzähligen rechtsradikalen Polit-Sekten, probt damals den großen Wurf: Mit dem Programm und der Umbenennung probt sie laut Nolzen die "Fusion zweier sehr starker Zeitströmungen" - dem Nationalen und dem Sozialistischen.
Adolf Hitler beginnt an jenem Tag ein neues Konzept: "Aus einer Honoratioren-Partei der Hinterzimmer will er eine Massenbewegung formen", sagt Historiker Nolzen. Hitlers Erfolgrezept: "Antisemitische Propaganda und Gewalt".
Nach seinem missglückten Putsch vom 9. November 1923 wird Hitler umdenken. Der Plan lautet: Demokratisch an die Macht kommen, um die Demokratie zu zerstören. Den Judenhass sollte er stets beibehalten.
Bald nach dem Abend im Hofbräuhaus wird sich die NSDAP das Hakenkreuz zu eigen machen. Hitler, den die sozialdemokratische Zeitung Münchner Post damals als "gerissensten Hetzer" beschreibt, verdrängt die Gründungsriege der Partei. "Er war als Redner unentbehrlich geworden", erklärt Hermann Graml vom Institut für Zeitgeschichte, "und wer unentbehrlich wird, bestimmt."
Nach der Machtergreifung 1933 mystifiziert Hitler das Datum, ähnlich wie den versuchten Putsch von 1923: Jedes Jahr zelebriert der Diktator am 24. Februar vor "alten Kämpfern" die Geburtsstunde der Partei, die Verkündung des "unabänderlichen" Programms.
Räterepublik und Hitlerputsch in München:Von einem Extrem ins andere
Eine seltsame historische Volte: In der frühen Weimarer Republik entwickelte sich ausgerechnet München zum Brennglas der Extreme. Der Räterepublik folgte kurz danach der Hitler-Putsch.
Für die Geschichtsfälschung hat Hitler bereits vorher höchstpersönlich gesorgt: In Mein Kampf glorifiziert er seinen Auftritt im Hofbräuhaus als nationales Erweckungserlebnis, dem sich selbst Linke nicht entziehen konnten.
Hitler beschreibt anwesende Kommunisten und Sozialdemokraten, die anfangs randalierten, später aber - welch Wunder - sich nach und nach von Hitler überzeugen ließen.
Schmähungen gegen Rechte, Hochrufe auf die Republik
These für These sei "einstimmig" und unter Jubel angenommen worden. Am Ende "stand ein Saal von Menschen vor mir, zusammengeschlossen von (...) einem neuen Glauben, von einem neuen Wille", heißt es in Mein Kampf.
Der Bericht der Politischen Polizei entlarvt Hitler als Lügner. Zwar notiert der Beamte "reichlich Beifall" für Hitler. Und er schreibt von "großem Tumult", "Zwischenrufen", "großer Unruhe" - allerdings von keiner heroischen Saalschlacht, wie von Hitler kolportiert.
Auch das Finale der Veranstaltung schildert die Polizei anders als der rechtsextreme Agitator.
Während Hitler behauptet, der Saal habe sich "langsam" geleert, berichtet der Polizist von einem krawalligen, lautstarken Ende: Die Schlussworte seien im Lärm untergegangen, 100 Kommunisten und Sozialdemokraten seien "gegen das Tal-Rathaustor" gegangen, sie hätten dabei die Internationale gesungen, die Räterepublik hochleben lassen und die Deutschnationalen geschmäht.
Dass Adolf Hitler ihnen den späteren NS-Wahn umrissen, den Holocaust und einen Weltkrieg angekündigt hatte, wussten sie nicht.
Das Grauen nahm am 24. Februar 1920 seinen Lauf.