"Euthanasie"-Morde der Nazis:Der kalkulierte Tod

Anweisung Hitlers zur Euthanasie, 1939

"...der Gnadentod gewährt werden kann": Direkte Anweisung von Nazi-Diktator Adolf Hitlers zur Euthanasie. Reichsleiter Philipp Bouhler, Chef des Euthanasieprogrammes, und Dr. Karl Brandt wurden ermächtigt, psychisch Kranke zu liquidieren.

(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Im Januar 1940 begann der NS-Massenmord an psychisch Kranken und Behinderten. Das Münchner NS-Dokumentationszentrum zeigt, wie perfide die Nazis die Verbrechen verschleierten.

Von Jakob Wetzel

Die Mutter der kleinen Elisabeth war verzweifelt. "Sie werden doch kein Mädel aus Ihrer Anstalt geben, ohne zu wissen, wo sie hinkommt", schrieb die Frau am 11. August 1941 an Valentin Faltlhauser, den Leiter der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren. Unbedingt wolle Sie wissen, wo ihre Tochter sei. "Auf meine Verantwortung nehmen Sie das Mädel wieder in Ihre Anstalt zurück, ich werde mein Kind wieder besuchen", beschwor sie den Nervenarzt.

Sie habe erst am Vortag aufbrechen wollen, um nach Elisabeth zu sehen - als die Nachricht kam, das Mädchen sei an einen unbekannten Ort verlegt worden. Die Mutter ahnte wohl, dass sie ihre Tochter nie wiedersehen würde. Nachdem sie den Brief bereits unterschrieben hatte, ergänzte sie sechs Zeilen. Sie schrieb: Die Familie sei in der Lage, die Tochter zu begraben, sollte ihr "etwas passieren".

8000 Kinder wurden ermordet

Die kleine Elisabeth war krank; und sie bezahlte ihr Leiden mit dem Leben. Sie war eine von etwa 300 000 psychisch Kranken oder Behinderten, die während des Zweiten Weltkriegs unter dem Regime der Nationalsozialisten als "lebensunwert" ermordet wurden - hauptsächlich, um das Geld für die Pflege zu sparen.

Mehr als 70 000 Kranke starben durch Gas, die übrigen durch überdosierte Medikamente, an Vernachlässigung oder an Hunger. Allein etwa 8000 Opfer waren Kinder. "Euthanasie" nannten die Nationalsozialisten ihren Massenmord: den "guten Tod".

In München bemüht sich eine Arbeitsgruppe darum, die Erinnerung an die Ermordeten wachzuhalten. Im Auftrag des NS-Dokumentationszentrums schreiben der Psychiater Michael von Cranach und die Historiker Sibylle von Tiedemann, Annette Eberle und Gerrit Hohendorf an einem Gedenkbuch, das die Namen der etwa 2000 Münchner Opfer enthalten soll.

An diesem Sonntag, 18. Januar, lädt die Gruppe zur Gedenk- und Informationsveranstaltung in den Gasteig; Beginn ist um 18 Uhr. Vier Angehörige werden dort die Lebensgeschichten ihrer getöteten Verwandten erzählen. Er hoffe, dass darüber hinaus weitere Angehörige kommen, sagt von Cranach: Denn in vielen Familien sei das Schicksal der Ermordeten noch immer tabuisiert. Der Abend solle Mut machen, nachzuforschen und die Lücken im Stammbaum zu schließen.

"Euthanasie"-Morde der Nazis: Ein Denkmal im Isar-Amper-Klinikum in Haar erinnert an die ermordeten Patienten.

Ein Denkmal im Isar-Amper-Klinikum in Haar erinnert an die ermordeten Patienten.

(Foto: Claus Schunk)

Ebenfalls am Sonntag will auch das Isar-Amper-Klinikum München-Ost, die Nachfolge-Klinik der früheren Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar, der Ermordeten gedenken. Um 10 Uhr beginnt ein ökumenischer Gottesdienst in der katholischen Kirche St. Raphael des Klinikums. Um 11 Uhr folgt ein jüdisches Gebet am Gedenkstein auf dem Klinikgelände. Gäste sind willkommen; eine Anmeldung ist nicht nötig.

Der Zeitpunkt des Gedenkens ist bewusst gewählt: Es ist der Jahrestag des ersten Transports in den Tod. Vor 75 Jahren, am 18. Januar 1940, brachte ein Bus 25 männliche Patienten aus der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar in die Tötungsanstalt Grafeneck, knapp 50 Kilometer westlich von Ulm.

Der Transport war ein Probelauf; später wurden die Patienten mit Zügen vom Münchner Osten zu den Gaskammern in Grafeneck oder in Schloss Hartheim bei Linz gebracht.

Für die "Aktion T4", benannt nach dem Verwaltungssitz in der Berliner Tiergartenstraße 4, wurden im Reichsgebiet insgesamt sechs Tötungsanstalten eingerichtet. In Eglfing-Haar wurde für die Transporte ein Gleisnetz reaktiviert, das ursprünglich für die Beförderung von Kohle errichtet worden war. Die frühere Gleishalle existiert noch heute.

Entkleidet, gestempelt und dann in die Gaskammer geführt

Am Ziel wurden die Menschen entkleidet, mit einem Stempel auf Schulter oder Arm nummeriert und in einen Gemeinschafts-Duschraum gebracht, der zur Gaskammer umgebaut worden war. Dieselmotoren bliesen Kohlenstoffmonoxid in den Raum; durch ein Fenster sah ein Arzt dabei zu, wie die Kranken starben.

Die Täter gaben sich sehr wohl Mühe, ihr Tun zu verschleiern. Die Leichen wurden umgehend kremiert; die Angehörigen erhielten eine Nachricht, dass der Patient erkrankt, gestorben und bereits eingeäschert worden sei.

Friedhof von Hadamar, 1945

Auf diesem Friedhof liegen die in der Tötungsanstalt Hadamar ermordeten Menschen begraben. Etwa 14.500 Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen wurden in Hadamar ermordet. Die Aufnahme entstand 1945.

(Foto: SZ Photo)

Kurz zuvor hatten die Verwandten so kurze wie verstörende Mitteilungen erhalten: Der Onkel, der Ehemann, der Vater oder auch die Tochter, wie im Fall der kleinen Elisabeth, sei in eine unbekannte Anstalt verlegt worden. Es sollte keinen Ort geben, an dem sich die Angehörigen beschweren konnten.

Geheimhalten aber ließen sich die Morde nicht. Die Menschen schöpften Verdacht. Und als sich öffentlich Widerstand regte, stellten die Nationalsozialisten die "Aktion T4" im August 1941 ein.

Doch der Protest hatte nur vordergründig Erfolg: Getötet wurde nach wie vor, nur die Methoden änderten sich. Statt die Patienten in zentrale Anstalten zu deportieren und dort zu vergasen, wurden sie nun in den einzelnen Pflegeanstalten so lange gezielt vernachlässigt und mangelernährt, bis sie starben. Diese "dezentrale Euthanasie" hielten die Nationalsozialisten bis zum Kriegsende aufrecht. Und noch in den Monaten nach dem Waffenstillstand starben Patienten an Entkräftung.

Eine Nahrung ohne Fett und Nährstoffe

In den Akten kämen verstärkt Todesursachen wie Lungenentzündung, Tuberkulose oder Durchfall vor, sagt Sibylle von Tiedemann. Doch die Krankheiten waren kein Zufall, der Tod war kalkuliert. Valentin Faltlhauser, der Leiter der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren, hatte zuvor mit einer Nahrung aus Wasser und abgekochtem Gemüse experimentiert, die keinerlei Fett und überhaupt kaum Nährstoffe enthielt.

Diese Hungerkost machte die Patienten anfällig: Sie verhungerten nicht, sondern starben zuvor an Krankheiten, denen ihr geschwächter Körper keinen Widerstand mehr entgegensetzen konnte.

Und die Kaufbeurer Hungerkost wurde zum Vorbild: In einem Erlass vom Herbst 1942 schrieb Walter Schultze, Ministerialrat im bayerischen Innenministerium, den Leitern der Heil- und Pflegeheime diese Ernährungsart vor. Ihr Erfinder Faltlhauser rechtfertigte die Mangelernährung später damit, die Patienten hätten nicht gearbeitet, also hätten sie auch weniger Kalorien gebraucht.

Und die Ärzte? Hemmungen, Kranke verhungern zu lassen, hätten zwar durchaus mehrere Mediziner, Pfleger oder Krankenschwestern gespürt, sagt Michael von Cranach. Einzelne Ärzte beispielsweise hätten die Anstalten verlassen und eigene Praxen eröffnet, die Kündigungszahlen gingen deutlich nach oben. Einer von ihnen war Friedrich Hölzel, der Leiter der Kinderabteilung in Eglfing-Haar: ein SA-Mann, der es nicht über sich brachte, Kinder zu töten. Er quittierte den Dienst. Offenen Widerstand aber gab es selten.

Der Erlass ging auch an Hermann Pfannmüller, den Leiter der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar. Hier wurden zwei "Sonderkost-Häuser" eingerichtet, deren Bewohner hungern mussten. Ihre Tode sind gut dokumentiert: Die Ärzte fertigten detaillierte Gewichtslisten an; sie läsen sich wie Dokumentationen des Verbrechens, sagt Cranach.

"Ich wiege nur noch 40 Kilogramm, was wiegst Du?"

In den Krankenakten fänden sich nun außerdem lapidare Vermerke wie "Patient nimmt wenig Nahrung zu sich", erzählt Sibylle von Tiedemann. Auch Briefe seien erhalten, in denen die Insassen der Hunger-Häuser ihre Angehörigen darum baten, ihnen Essen zu schicken. "Ich wiege nur noch 40 Kilogramm, was wiegst Du?" Dieser Satz aus einem der Briefe blieb Tiedemann im Gedächtnis haften. Doch es kam keine Hilfe. Die ärztlichen Bewacher hielten die Briefe zurück.

Auch Elisabeths Mutter erhielt keine Antwort auf ihr verzweifeltes Schreiben. Der Brief trägt einen Eingangsstempel vom 12. August. Doch als er die Klinik in Kaufbeuren erreichte, war das Mädchen vermutlich bereits tot.

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