"Me Too"-Debatte:Dänemarks großer blinder Fleck

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Die dänische Moderatorin Sofie Linde hat die aktuelle Debatte losgetreten, als sie live von erzwungenem Oralsex berichtete und in die Kamera sprach: "Ich bin mir ziemlich sicher, dass du zusiehst." (Foto: Martin Sylvest/Imago Images/Ritzau Scanpix)

Vor drei Jahren diskutierte alle Welt über den Hashtag "Me Too", Sexismus und Machtmissbrauch. In Dänemark aber ist das Thema erst jetzt so richtig angekommen. Warum bloß?

Von Kai Strittmatter, Kopenhagen

Am Montag stürzte der Bürgermeister Kopenhagens, vergangene Woche trat der Parteiführer der Sozialliberalen zurück, und noch immer steht der Außenminister Dänemarks in der Schusslinie. "So etwas habe ich in der dänischen Politik noch nicht gesehen", urteilte der Kommentator der größten dänischen Tageszeitung Politiken Anfang dieser Woche. "Es ist völlig wild." Während Europa über das Wiederaufflammen der Corona-Pandemie spricht, wird Dänemark von einer zweiten Welle ganz anderer Art getroffen: Drei Jahre nachdem die "Me Too"-Bewegung sexuellen Missbrauch weltweit auf die Agenda brachte, wird die dänische Gesellschaft und Politik gerade von der Debatte mit einer Wucht erfasst, die die Dänen selbst erstaunt.

Losgetreten hatte diesen Herbst der Abrechnung die bekannte TV-Moderatorin Sofie Linde, die unter anderem die dänische Ausgabe der Talentshow "X Factor" moderiert. Bei der Aufzeichnung der Zulu Awards des Senders TV 2 Zulu Ende August überraschte sie das ganze Land, als sie ihre Moderation eröffnete mit der Erinnerung an ein Zusammentreffen, das sie als TV-Neuling zwölf Jahre zuvor mit einem mächtigen Fernsehmann gehabt hatte: Der Mann, sagte Sofie Linde, habe sie damals in groben Worten zum Oralsex aufgefordert und gesagt, andernfalls werde er ihre Karriere zerstören. "Ich bin mir ziemlich sicher, dass du zusiehst", sagte sie dann in die Kamera. "Du weißt, wer gemeint ist."

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Die noch größere Überraschung war dann die: Anders als bei früheren Anschuldigungen blieb es diesmal nicht bei den Schlagzeilen des nächsten Tages. Stattdessen schienen vor allen die Frauen in Dänemark auf ein solches Signal nur gewartet zu haben. Zuerst solidarisierten sich 1600 Prominente in einer Unterschriftenliste mit Sofie Linde, dann wandten sich ehemalige Praktikantinnen beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk DR mit einem öffentlichen Brief an die Verantwortlichen des Senders, in dem sie von Belästigung und Missbrauch berichteten. Die Debatte erfasste nach den Medien schnell auch die Musik, die Universitäten, die Krankenhäuser.

Ein Brief, 79 Fälle von sexueller Nötigung

In einem offenen Brief beklagten dann Ende September 322 Politikerinnen aus allen Parteien Sexismus und Missbrauch in den Parteien und im Parlament. "In der Politik geht es um Netzwerke, Beziehungen und Macht", heißt es in dem Brief. Deshalb sei sie ein idealer Nährboden für Missbrauch. Dem Brief beigefügt war eine Auflistung von 79 Vorfällen, die die Schreiberinnen am eigenen Leibe erlebt hatten: "Einer von uns wurde angeboten, in der Wahlnacht in einem Ministerium gefickt zu werden" - "Einer von uns wurde gesagt, es sei wichtig, dass ihre Brüste auf dem Wahlplakat zu sehen seien" - "Eine wurde von einem Parteifreund gefragt, ob sie 'Sperma zum Frühstück schluckt'."

Mit den Rücktritten der vergangenen Woche hat die Debatte nun erste Konsequenzen nach sich gezogen. Zuerst stürzte Morten Østergaard, Chef der Sozialliberalen. Die Parlamentarierin Lotte Rod hatte zuvor erzählt, wie sie einmal die zudringliche Hand eines mächtigen Parteifreundes von ihrem Schenkel hatte entfernen müssen. Østergaard gab sich nun als der Übergriffige zu erkennen.

Zurückgetreten: Frank Jensen, Bürgermeister der Hauptstadt Kopenhagen. Er soll Frauen gegen ihren Willen geküsst haben. (Foto: Ritzau Scanpix/Reuters)

Der mächtige Bürgermeister von Kopenhagen, der Sozialdemokrat Frank Jensen, musste nach Enthüllungen der Zeitung Jyllands-Posten sein Amt abgeben, in denen Parteifreundinnen von mehreren Übergriffen berichteten. So soll Jensen unter anderem Frauen bei Partys gegen ihren Willen geküsst haben. Bei seinem Rücktritt am Montag erklärte er, es tue ihm "unglaublich leid", dass er sich "unangemessen verhalten" habe. Gleichzeitig beklagte er eine Kultur der Vorverurteilung und sagte, "als früherer Justizminister" sei ihm wichtig, dass keiner für schuldig befunden werde, bevor nicht Beweise vorliegen.

Viele fragen nun, wieso eigentlich die "Me Too"-Debatte in Dänemark - anders als beim Nachbarn Schweden zum Beispiel - erst mit einer Verspätung von drei Jahren praktische Folgen hat. In Dänemark hat man sich immer gerne über die Schweden und deren angeblich übertriebene "politische Korrektheit" lustig gemacht, womöglich verstellte auch diese rauere politische Kultur den Blick dafür, dass es im dänischen Selbstbild als Land von Emanzipation und Gleichberechtigung große blinde Flecken gibt.

Die Mitschuld der Medien

Die Autorin Eva Aagaard gab in einer Kolumne in Politiken auch den dänischen Medien eine Mitschuld, "dass die erste dänische ,Me Too'-Welle 2017 so schnell verebbt ist". Sie zitiert eine Untersuchung, wonach sieben von neun dänischen Medien in ihren Social-Media-Kanälen jeweils doppelt so viele negative Nachrichten über die "Me Too"-Bewegung geteilt hätten wie positive. Die Medienberichterstattung habe Missbrauchsopfer sicherlich davon abgeschreckt, an die Öffentlichkeit zu gehen. "Bis das Schweigen 2020 erneut gebrochen wurde."

Premierministerin Mette Frederiksen gestand ein, ihre Sozialdemokratische Partei sei angesichts einer doch weit verbreiteten Kultur des Missbrauchs "ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden". Die Partei hat nun Anwälte mit einer internen Untersuchung beauftragt. Frederiksens Kritiker allerdings haben nun Jeppe Kofod im Visier. Kofod war 2008 als Parteisprecher zurückgetreten, nachdem er zugegeben hatte, als 34-Jähriger Sex mit einer 15-Jährigen gehabt zu haben. Frederiksen machte ihn dennoch nach ihrem Wahlsieg im Juni vergangenen Jahres zum Außenminister, bislang hält sie an ihm fest.

Der Rücktritt des Kopenhagener Bürgermeisters, meint Politiken jedenfalls, werde wohl nicht der letzte gewesen sein.

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