Missbrauchsfall in Lügde:Von Opferschutz kann keine Rede sein

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Schauplatz des zweiten Skandals: das Gebäude der Kreispolizeibehörde Lippe (Foto: dpa)

Dass der Polizei in Detmold Datenträger mit Beweismaterial abhanden gekommen sind, ist ein Skandal. Er fügt den Opfern weiteres Leid zu.

Kommentar von Jana Stegemann

Das Versagen der Polizei im Missbrauchsfall von Lügde ist ein Skandal ersten Ranges, auf dem Spiel steht das Vertrauen der Bürger in den Staat. Auf der ersten Pressekonferenz zu dem Fall am 30. Januar in Detmold sagten die Ermittler noch: "Dem Opferschutz und der Opfernachsorge räumen wir einen hohen Stellenwert ein." Heute klingen diese Worte wie blanker Hohn.

Denn Innenminister Herbert Reul (CDU) überbrachte am Donnerstagabend in einer eilig einberufenen Pressekonferenz die unbegreifliche Botschaft, dass wichtiges Beweismaterial fehlt. Ausgerechnet aus einem Sichtungsraum der damals noch ermittelnden Polizei in Detmold verschwanden ein Alukoffer und eine schwarze Hülle mit 155 Datenträgern. Und das war wohl schon am Tag der besagten Pressekonferenz bekannt. Bei den verschwundenen Asservaten handelt es sich um Material, das im Wohnwagen des Hauptverdächtigen sichergestellt worden war.

Fall Lügde
:Sonderermittler soll "Polizeiversagen" aufklären

Wichtiges Beweismaterial in dem Missbrauchsfall ist verschwunden - ausgerechnet aus Räumlichkeiten der ermittelnden Kriminalpolizei. NRW-Innenminister Reul spricht von einem "Desaster".

Von Jana Stegemann

Die mindestens 31 Missbrauchsopfer können das Polizeiversagen im Fall Lügde nur als zweiten Missbrauch empfinden - ihnen wurde erneut großes Leid angetan. Und zwar ausgerechnet von der Institution, die sie eigentlich schützen müsste. 27 Mädchen und vier Jungen im Alter von vier bis 13 Jahren sollen in dem Campingwagen von Andreas V. über mindestens zehn Jahre sexuell missbraucht und dabei auch gefilmt worden sein. Ein monströser Fall - und die Polizei legt ein Verhalten an den Tag, als handle es sich um Fahrraddiebstahl. Das muss zu Konsequenzen in der nordrhein-westfälischen Polizei führen.

Was genau auf den CDs und DVDs ist, weiß wohl nur der Hauptverdächtige. Die Polizisten haben - entgegen den Vorschriften - nur Sicherungskopien von drei CDs gemacht. Es könnte jetzt also sein, dass 0,7 Terabyte mit hochsensiblem Material in die falschen Hände gelangt sind. Die Gründe für den Verlust der Daten sind unklar. Fest steht aber: Mit der Auswertung des verschwundenen Materials war ein Kommissaranwärter betraut, also jemand, der sich noch in der Ausbildung befindet. Haben die Polizisten das Material durch Schlampigkeit verloren oder wurde es gezielt weggeschafft, um weitere Täter zu schützen? Es scheint im Fall Lügde mittlerweile leider alles denkbar, so viele Fehler haben die beteiligten Behörden gemacht.

Kein Auswertesoftware vorhanden

So wurden schon im Jahr 2016 zwei Hinweise auf den Hauptverdächtigen von örtlichen Polizisten nicht an die Staatsanwaltschaft weitergereicht, obwohl sie eindeutige Verdachtsmomente enthielten. Mitarbeiter der Jugendämter Lippe und Hameln-Pyrmont besuchten über Jahre Andreas V. auf seiner selbstgebauten Müllhalde - und bemerkten angeblich nichts. Das Jugendamt Hameln-Pyrmont sprach dem Dauercamper 2017 sogar noch ein damals sechsjähriges Mädchen als Pflegetochter zu. Der Chef dieses Jugendamtes manipulierte später die Akte. Für die Auswertung der vielen Terabyte an Kinderpornos im Fall Lügde musste Reul seiner Polizei sogar eilig eine Auswertesoftware beschaffen - die gab es bis dahin in NRW nicht mal.

Minister Reul, seit Juni 2017 im Amt, spricht von "Behördenversagen an allen Ecken und Kanten". Es liegt in den Strukturen der NRW-Polizei einiges im Argen, nicht zum ersten Mal steht sie in der Kritik. Man denke an das Polizeiversagen bei der Loveparade 2010 oder in der Silvesternacht 2015. Offenbar mangelt es vor allem an Personal. Bei der für den Fall Lügde zuständigen Kripo fehlten im vergangenen Jahr 60 Leute, die Behörde sei ausgeblutet, heißt es. Letztlich muss Reul aber auch schwere Versäumnisse seines Vorgängers Ralf Jäger (SPD) aufräumen, eine Einstellungsoffensive läuft bereits.

Und die ermittlungstechnische Ausrüstung der Fahnder entspricht nicht modernen Standards. Reul muss als oberster Polizeichef des Bundeslandes nicht zurücktreten, aber er muss seine Behörde aufrütteln. Und er muss bei den Bürgern verlorenes Vertrauen in die Polizei zurückgewinnen.

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