100 Jahre Tipp-Kick:Zwei Freunde müsst ihr sein

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Eine Taktiktafel ist hier nicht vonnöten. Bei Tipp-Kick geht es in erster Linie um das Duell des Feldspielers mit dem Torwart. (Foto: imago sportfotodienst)

Ein Feldspieler, ein Torwart - Tipp-Kick reduziert Fußball aufs Wesentliche. Die Popularitätswerte des Spiels schwankten in den vergangenen 100 Jahren, nun könnte aber eine besondere Zeit folgen.

Von Uwe Ritzer, München

Der Hype um die Darts-WM hat bei Aimé Lungela aus Hildesheim bei Hannover die sichere Erkenntnis reifen lassen, "dass wir uns da nicht verstecken müssen". Schließlich bräuchten auch er und seine Mitspieler hohe Konzentration, geschulte Handkoordination und ausgefeilte Spieltechnik, Geduld und Fehlertoleranz sowie Durchhalte- und Reaktionsvermögen. Mit dem Unterschied, dass die erfolgreichsten Pfeilewerfer inzwischen ein Millionenpublikum begeistern und fette Preisgelder kassieren. Während Lungela und seine Freunde vor überschaubaren Kulissen in Turnhallen spielen, ihre Fahrtkosten selber bezahlen und allein über Pokale glücklich sind. Sie spielen Tipp-Kick.

Seit 100 Jahren gibt es das Tischfußballspiel mit einem jeweils fingerlangen Torwart und einem Feldspieler als Team. Der Keeper ist steif und kann sich nur nach links oder rechts werfen lassen. Beim Feldspieler muss man einen Knopf auf dem Kopf drücken, damit sein rechtes Bein ausschlägt und gegen einen Ball tritt. Gekickt wird zweimal zehn Minuten, wahlweise auf einem ausrollbaren oder einem fest montierten Spielfeld, was allein schon gelegentliche von ambitionierten Spielern abgrenzt. Die Wettkampfspieler sind im Deutschen Tipp-Kick-Verband organisiert, dessen Präsident und Bundesspielleiter besagter Aimé Lungela ist. Es gibt eine erste und zwei zweite Tipp-Kick-Bundesligen, vier Regional- und mehrere Verbandsligen. Wobei Tipp-Kick - zumindest wenn man den Internet-Filmchen von Turnieren trauen darf - ähnlich wie Dart eine der letzten Männer-Bastionen zu sein scheint.

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Dart und Tipp-Kick haftet gleichermaßen die latente Frage an, ob es sich tatsächlich um Sport oder doch "nur" um ein Spiel handelt. Tipp-Kick-Firmengründer Edwin Mieg hatte für solche Haarspalterei im Villingen-Schwenningen des Jahres 1924 keinen Kopf, denn der Anfang geriet mühsam. 1921 hatte er einem Karl Mayer aus Stuttgart dessen Patent eines "Fußballbrettspiels mit Aufstellfiguren, deren Füße Stoßbewegungen ausführen können", samt würfeligem Ball mit "abgerundeten Kanten und Ecken", wobei "die jeweils oben gezeigte Farbe bestimmt, welche Partei zum Spiel kommt", abgekauft. Obwohl der reale Fußballsport damals schwer im Kommen war, dauerte es zehn Jahre, bis Tipp-Kick ein Verkaufsschlager wurde.

Wobei Popularität und ökonomischer Erfolg bis heute vom fußballerischen Zeitgeist abhängen. 1954, im Jahr des Wunders von Bern, verkaufte sich auch Tipp-Kick ausgezeichnet, zumal der Torwart "Toni" hieß, wie der echte Toni Turek im WM-Finale. Wenn aber deutsche Nationalspieler mit lustlosen WM-Auftritten wie 1978 gegen Österreich bei der "Schande von Córdoba" oder ausgestreckten Mittelfingern (Effenberg, 1994) die Fans verärgerten, oder ein Bestechungsskandal in der Bundesliga aufflog, war Tipp-Kick ein Ladenhüter. Erfasste aber ein fußballerisches Sommermärchen das Land wie 2006, verkaufte sich Tipp-Kick entsprechend.

Darauf hofft die inzwischen dritte Generation der Herstellerfamilie Mieg auch 2024. Eine Fußball-EM in Deutschland steht an, und Tipp-Kick wird ein Lizenz-Produkt des DFB. Parallel zur EM werden im Juni in Villingen-Schwenningen die offenen Deutschen Meisterschaften gespielt, "mit bestimmt mehr als 100 Teilnehmern aus mehreren Ländern", sagt Aimé Lungela. Zu Geschick und Glück der Spieler gesellen sich dann auch Jubelgesänge und Buhrufe von Fans, und wer will, kann zu den Matches Nationalhymnen abspielen. Sound-Module machen es möglich. Denn nach 100 Jahren hat die Digitalisierung auch Kick-Tipp erfasst.

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