Vortrag bei der SPD-AG 60plus :"Vor unserer eigenen Haustür schweigen wir" 

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Gabriele Skiba von der SPD-AG 60plus hatte Pflegeexperte und Pflegekritiker Claus Fussek nach Wolfratshausen eingeladen. (Foto: Hartmut Pöstges)

Claus Fussek prangert die Missstände in der Pflege an und ordnet sie als Verletzung des Grundrechts Menschenwürde ein. Zuhörer kritisieren "die Ideologie, dass sich alles rechnen muss".

Von Felicitas Amler, Wolfratshausen

Der eingefleischte Sechzger-Anhänger Claus Fussek macht einen Scherz, aber es steckt darin eine sehr ernste Wahrheit: "Ich möchte niemals im Pflegeheim in einem Doppelzimmer mit einem Fan von Bayern München liegen." Das Publikum im Nebenzimmer des Wolfratshauser Gasthauses "Zum Löwenbräu" lacht. Doch es ist allen klar, was der Sozialpädagoge Fussek, bekannt als Deutschlands Pflegekritiker Nummer eins, sagen will: Neben all den Missständen, die über Pflegeheime bekannt sind, vom Personalmangel über Zeitnot bis zur Vernachlässigung der Menschen, ist es ein Problem, dass die Pflegebedürftigen nicht einmal für sich sein können. Man stelle sich so eine Situation vor, sagt Fussek, einer ist unruhig, schreit, macht ins Bett, während der andere gerade frühstücken will. Mit Menschenwürde habe das nichts zu tun. Und eben die fordert er ein.

Der Referent, der am Donnerstag bei der Arbeitsgemeinschaft 60plus der SPD Bad Tölz-Wolfratshausen spricht, kämpft seit Jahrzehnten für eine bessere Pflege in Deutschland. Das Wort "kämpfen", so sagt er, sei eigentlich absurd. Denn wer sei denn der Gegner? Niemand sei gegen eine bessere Situation; niemand gegen angemessene Bezahlung der Pflegekräfte, gegen gute Heime. Woran es aber fehle, sei echte Solidarität: "Wenn alle Pflegekräfte zusammenhalten würden, könnten sie die mächtigste Berufsgruppe Deutschlands sein."

Da dies nicht der Fall ist, hat Fussek einen anderen Lösungsweg. Er fordert die Kommunalisierung der Pflege. Damit meint er ein gesellschaftlich umfassendes Zusammenwirken auf lokaler Ebene. Es müsse einen Wettbewerb unter den Kommunen geben, welche das beste Pflegeangebot hat. Kreativität sei da gefordert, sagt er und hat auch gleich eine Aufgabe für das Dutzend Anwesender: "Organisieren wir Besuchsdienste in die Pflegeheime!" Denn zu den Mängeln und Miseren im System kommt seiner Erfahrung nach noch ein Elend: Nur etwa zehn Prozent der Heimbewohnerinnen und -bewohner bekämen überhaupt Besuch.

Was das für die Menschen bedeutet, illustriert er an einem selbst erlebten Beispiel. Er habe seine Tante im Heim besucht und sei mit ihr in den Garten gegangen. Dort hätten sie Blümchen gepflückt, und er habe dann, zurück im Gemeinschaftsraum, auf die Tische der anderen Gänseblümchen verteilt. "Die haben geweint", sagt er. Denn das Glück, an die frische Luft geführt zu werden, in der Natur umherzugehen und sogar Blumen zu pflücken, hat offenbar kaum jemand im Heim.

Fussek wünscht sich ein geschütztes Rechtsgut: So wie es die Kindeswohlgefährdung gebe, müsste eine Altenwohlgefährdung etabliert werden. Doch er weiß auch, was seinen Wünschen entgegensteht: "Pflege ist ein Milliardengeschäft." 50 bis 60 Prozent der Unternehmen seien börsennotiert. Zudem werde das Thema seit Jahrzehnten verdrängt; es sei einfach "nicht sexy", es ließen sich keine Wahlen damit gewinnen. Und einen Gegner hat er dann doch ausgemacht: "Die Erben." Denn oft seien sie es, die verhinderten, dass das Geld oder der Besitz ihrer Verwandten für die Pflege aufgebracht werden. "Im Alter werden auch alte Rechnungen beglichen."

In der Diskussion wird verstärkt die politische Seite des Themas beleuchtet. Günter Wagner, selbst Inhaber eines ambulanten Pflegedienstes in Geretsried, sagt, Krankenhäuser und Pflegeheime dürften nicht marktwirtschaftlichen Gesetzen unterworfen sein. "Das ist falsch organisiert." Klaus Barthel, Kreisvorsitzender der SPD, stimmt dem nachdrücklich zu, denn "der Altensektor ist zu Dreivierteln privatisiert". Und Hans Gärtner, früherer Ortsvorsitzender der SPD Wolfratshausen, unterstreicht: "Wir schlagen uns immer wieder mit der Ideologie herum, dass sich das alles rechnen muss. Profit ist der Maßstab."

Gärtner bestätigt mit einem lokalen Beispiel Fusseks These, dass das Thema Pflege verdrängt werde. Er verweist auf die seit Jahren andauernden Diskussionen im Wolfratshauser Stadtrat über die Frage, "wie man Autos gut unterbringt". Dabei gebe es viel wichtigere Themen.

Der Referent ordnet sein Thema der Wahrung der Menschenrechte zu. Und zieht einen aktuellen Vergleich. Kanzler Scholz sei dafür kritisiert worden, dass er in China die Menschenrechte nicht angesprochen hat. Es gebe also eine "Nah- und eine Fernethik", sagt Fussek, denn: "Vor unserer eigenen Haustür schweigen wir."

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