SZ-Serie: "Die Kesselbergstraße" - Die Geschichte:Aus dem Fels gesprengt

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125 Jahre Kesselbergstraße: Die Trasse führt von Kochel am See nach Urfeld und überwindet bis zum Pass einen Höhenunterschied von 255 Metern. An die Einweihung am 29. Juli 1897 durch Luitpold von Bayern erinnert eine Gedenktafel direkt an der Strecke. (Foto: Manfred Neubauer)

Eine der schönsten Panoramarouten der Alpen existiert seit 125 Jahren in ihrer modernen Form. Die Verbindung von Kochel- und Walchensee war eine bedeutende Ingenieurleistung - und steht doch in der Kritik.

Von Benjamin Engel, Kochel am See

Ein Wiehern und Seufzen, über Kies knarrende Fuhrwerksräder, gerufene Anweisungen, dumpfe Explosionen und herabrieselndes Gestein: So mag es geklungen haben, als vor 125 Jahren die Moderne endgültig in Kochel am See ankam. Von 1893 bis 1897 haben Arbeiter am Pass zwischen Kochel- und Walchensee die Kesselbergstraße bergauf getrieben - fast genau so, wie sie heute noch verläuft. Sie luden die Baumaterialien teils in Pferdefuhrwerke, um etwa Steine zum Brückenbau nach oben zu transportieren. Das zeigt eine der vielen Schwarz-Weiß-Fotografien aus dem Archiv des Staatlichen Bauamts Weilheim. Im Bild zu sehen sind zehn Pferde, vor einen mit behauenen Steinen gefüllten Karren gespannt, auf der alten Kesselbergstraße, kurz unterhalb der neuen Lehmbachbrücke. Eine Momentaufnahme aus der vierjährigen Baugeschichte.

In ihrer heutigen Form wird die Kesselbergstraße 2022 genau 125 Jahre alt. (Foto: Straßenbauamt Weilheim/OH)
Damals wie heute erlaubt die Strecke schöne Ausblicke in die Landschaft, wie hier hinunter zum Kochelsee. (Foto: Straßenbauamt Weilheim/OH)

Prinzregent Luitpold gab die gesamte Kesselbergstraße am 29. Juli 1897 - also vor 125 Jahren - für den Verkehr frei. Gemeinsam mit dem damals erst 31-jährigen Bauamtsassessor und verantwortlichen Projektleiter Theodor Freytag inspizierte er die neue Trasse bis zur Passsattelhöhe zu Fuß. So steht es in der Bauchronik. 700 000 Mark soll es den Freistaat gekostet haben, die Kesselbergstraße auszubauen. Mit nur noch um die fünf Prozent Gefälle war die Trasse wesentlich flacher als die alte Verbindung mit mehr als 20 Prozent Gefälle. Anschließend soll der Prinzregent ins Jagdgebiet nach Vorderriß weitergereist sein. Zur Eröffnung der neuen, nur noch maximal fünf Prozent steilen und damit für den aufkommenden Autoverkehr geeigneten Trasse sollen die Arbeiter - unter ihnen auf die notwendigen Felssprengarbeiten besonders spezialisierte Mineure aus Italien - ein Fest am Kesselberg gefeiert haben.

Verdient hatten sie's. Während der vierjährigen Bauphase soll es keine größeren Zwischen- oder gar Todesfälle gegeben haben. Für die "umsichtige Leitung der Bauarbeiten und den befriedigenden Abschluss des ganzen Unternehmens" sprach das bayerische Staatsministerium des Inneren Projektleiter Freytag "die besondere Anerkennung" aus. So ist es in einem Schreiben der Behörde von Mitte Dezember 1897 in dessen Personalakte nachzulesen. Das war der Auftakt für eine steile Beamtenkarriere: Freytag schaffte es bis zum bauverantwortlichen Leiter für das Walchenseekraftwerk und zum Ministerial-Direktor zur Zeit der Weimarer Republik.

Von einem "Meisterwerk der Ingenieurskunst" schreibt der damalige Abteilungsleiter und spätere Lenggrieser Bürgermeister Werner Weindl 1992 in der Fachzeitschrift "bau intern". In diesem Jahr existierte die Vorgängertrasse der alten Kesselbergstraße ein halbes Jahrtausend lang. Anlässlich des Jubiläums erschienen einige Aufsätze in dieser Publikation des bayerischen Bau-, Wohn- und Verkehrsministeriums. Beispielhaft für die ingenieurstechnische Qualität der neuen Kesselbergstraße dürfte die Lehmbachbrücke sein - die einzige bis heute erhaltene der ursprünglich zehn gleichartigen Natursteinbrücken auf der 5,8 Kilometer langen Strecke. Über das Bauwerk führt inzwischen nur noch ein Parkstreifen. Zusammengesetzt ist es aus bearbeiteten, unregelmäßigen Natursteinen aus Kalk. Ein hölzernes Lehrgerüst diente als Hilfskonstruktion, um die Brücke zu gründen. Vermutlich stammte das Material aus Steinbrüchen nördlich von Garmisch, so steht es in einem 1988 vom Bundesverkehrsministerium herausgegebenen Buch über historische Steinbrücken in Deutschland.

In Serpentinen windet sich die Straße von der Scheitelhöhe bis zum Walchenseeufer hinab. Loren dienten zum Materialtransport. (Foto: Gemeindearchiv Kochel am See/OH)
Schweres Gerät wie eine Dampfwalze kam zum Einsatz. (Foto: Straßenbauamt Weilheim/OH)

Einzuordnen ist die Kesselbergstraße in den größeren Kontext der Mobilitätsgeschichte. Gerade für den Alpenraum bedeuteten solche Infrastrukturprojekte neue Möglichkeiten, um einfacher Handel zu treiben, Waren zu transportieren und später Touristen anzuziehen. Der Weg über den Kesselbergpass war die kürzeste direkte Nord-Süd-Verbindung von München über die Region um Bad Tölz und das Loisachtal in Richtung Innsbruck und weiter nach Italien. Der Münchner Patrizier und Ratsherr Heinrich von Barth soll im 15. Jahrhundert den Plan initiiert haben, den über den Berg führenden Saumpfad auszubauen. Im Auftrag Herzog Albrechts IV. soll Barth das Projekt von 1492 an hauptverantwortlich geleitet haben. Daran erinnert die Kopie der Gedenktafel an der alten Kesselbergstraße, die westlich unterhalb der neuen bergauf führt. Es könnte sein, dass Barth auch bekannte Erz- und Metallvorkommen in der Region zum Bau bewogen haben. So richtig in Schwung kam der Bergbau im Gebiet jedoch nie.

Für die einheimische Bevölkerung eröffnete der Ausbau Einnahmequellen. "An den Verdienstmöglichkeiten durch den Handel hat Kochel teilhaben können, beispielsweise durch Vorspanndienste mit Pferden", sagt der Kochler Archivar und Gemeinderat Max Leutenbauer. "Für das arme Fischer- und Bauerndorf war die Straße mit Sicherheit ein Segen." Das gilt auch für ihre modernisierte Form vom Ende des 19. Jahrhunderts.

Damals hatte der Ort schon eine erste Blüteperiode als Seebad mit vielen adeligen Gästen um die Mitte des 19. Jahrhunderts hinter sich. Um die folgende Jahrhundertwende beschleunigte sich allerdings der Strukturwandel. Als die Kesselbergstraße neu gebaut und gleichzeitig die Eisenbahn 1898 von Penzberg nach Kochel am See verlängert wurde, nahm der Fremdenverkehr zu. Im bis dahin fast reinen Bauerndorf eröffneten Geschäfte und Gewerbebetriebe. In seiner Kriegs-Chronik von Kochel berichtet Otto Freiherr von und zu Aufseß über die Zeit vor 1914 von zehn Gaststätten mit Wirtschafts- und Kaffeebetrieb. Es existierten vier Schreiner, je drei Metzger und Schuhmacher, zudem zwei Bäcker, zwei Schneider und zwei Wagner. Der Freiherr nennt zudem die Kaufhäuser Berghofer und Geisler, kleinere Verkaufsgeschäfte, Drogerien und Lebensmittelhandlungen.

Staatliche Postautos verbanden damals den Kochel- mit dem Walchensee und dem Herzogstand. Aufseß schreibt zudem von einem "zeitweise auch ungeheuren Durchgangsverkehr von privaten Kraftwagen aller Art aus aller Herren Länder". Doch diese Beobachtung ist relativ, denn das Automobil war um diese Zeit noch relativ neu - und es fiel deshalb wahrscheinlich besonders auf, wenn eines auftauchte.

Neue Motorengeräusche schlichen sich damit ins Leben der Menschen, wenn auch in viel geringerer Dimension als heutzutage. Geklagt hat die Bevölkerung aber auch damals, weil die Autos lärmten und den Straßenstaub aufwirbelten. Im schweizerischen Kanton Graubünden verbot die Regierung zwischen 1900 und 1925 Autos sogar ganz. Damit sollten die "fremden Automobilbesitzer" mit ihren "Modespielzeugen" ferngehalten werden, nachdem sich die heimische Bevölkerung über gefährliche Begegnungen mit Vieh- und Pferdegespannen beschwert hatte. Als das Fahrverbot 1907 für einzelne Straßen und Nutzer gelockert werden sollte, verhinderte dies eine Volksabstimmung. Diese habe sich laut einer Regionalzeitung "hauptsächlich gegen die Sportautomobile, mit denen ausländische Millionäre durch unser Land fahren wollen" gerichtet. So berichtet Wolfgang König in seinem Buch "Bahnen und Berge" über die Verkehrsentwicklung, Tourismus und Naturschutz in den Schweizer Alpen zwischen 1870 und 1939.

So mancher mag sich an heutige Vorurteile im Straßenverkehr erinnert fühlen. Auf jeden Fall erleichterte die neue, zwischen 1893 und 1897 errichtete Kesselbergstraße zunächst einmal, mobil zu sein. Zwar war die neue Straße mit 5,8 Kilometern drei Kilometer länger als die alte Strecke von 1492. Dafür war sie nur noch maximal fünf statt zuvor mehr als 20 Prozent steil. So konnten jetzt auch die neuen Automobile die 250 Höhenmeter bis zur Scheitelhöhe und die knapp 60 Höhenmeter bis zum Walchenseeufer bei Urfeld hinunter bewältigen. In vielen Kehren windet sich die Straße den Berg hoch und eröffnet an Haltepunkten schöne Ausblicke auf den Kochelsee und das angrenzende Voralpenland.

Während der vierjährigen Bauphase von 1893 bis 1897 mussten die Arbeiter in schwierigem Gelände hantieren. (Foto: Gemeindearchiv Kochel am See/OH)
Mineure mussten die Trasse in den Fels sprengen. (Foto: Gemeindearchiv Kochel am See/OH)
Zehn Naturstein-Brücken existierten einst auf der 5,8 Kilometer langen Trasse. (Foto: Gemeindearchiv Kochel am See/OH)
Deren Bau war vielfach Handarbeit. (Foto: Gemeindearchiv Kochel am See/OH)

Historische Fotos zeigen Arbeiter mit Schaufeln und Hacken, Leitern und Gerüsten an steilen Abhängen, ein Pferdegespann, das eine Dampfwalze nach oben zieht und schmale Schienen für Güterlore. "Für die damalige Zeit war es eine große Leistung, die Straße zu errichten", sagt der Kochler Archivar Leutenbauer, der die empfindlichen Fotoglasplatten-Negative für die Gemeinde digitalisiert hat. Vieles sei vor 125 Jahren noch Handarbeit gewesen. Die Arbeits- und Lebensumstände müssen zumindest für die italienischen Mineure, also Felssprengexperten, beschwerlich gewesen sein. Jost Knauss, der sich wie Archivar Leutenbauer im Verein für Heimatgeschichte im Zweiseenland Kochel engagiert, zitiert aus einem Mitteilungsheft, wonach die Arbeiter in einem Barackenlager am Fuße des Kesselbergs unter erbärmlichen Umständen gelebt haben sollen. "Ihre Familien hatten sie dabei", so Jost.

Schon bevor die Straße für den Verkehr freigegeben wurde, soll es 1896 den ersten Automobiltoten gegeben haben, als ein Fahrzeug zur Seite kippte und der Chauffeur umkam. Theodor Freytag, vom Straßen- und Flussbauamt Weilheim mit dem Projektbau betraut, starb übrigens 1933 mit 68 Jahren tragisch. Etwa eineinhalb Jahre nach seiner Pensionierung schmiss sich der Ministerialdirektor im Ruhestand vor einen Zug der Isartalbahn.

Es bleiben die Zeugnisse und Hinterlassenschaften aus seiner im Hauptstaatsarchiv aufbewahrten Personalakte: von der laut Behördenunterlagen "sehr befriedigenden technischen Leistung" als Bauführer des Straßenneubaus zwischen Freyung und Schlichtenberg zum Karrierebeginn, über die kuriose Bewilligung eines Dienstfahrrads für Nachsichtsreisen zum Katzenkopf beim Bau der Kesselbergstraße, den Leitungsposten zur Errichtung des Walchenseekraftwerks, den Vorstandsposten in der Abteilung für Wasserkraftausnutzung und Elektrizitätsversorgung im Staatsministerium des Innern bis zum Ministerialdirektor und Vorstand der obersten Baubehörde, Mitglied im Aufsichtsrat der Bayernwerk, Walchenseekraftwerk und Mittleren Isar AG.

Was die Kesselbergstraße einst für automobile Bergrennen legendär machte, warum der Kochler Archivar heute eher vom Fluch als vom Segen der Kesselbergstraße spricht, wie die Passstrecke aus Naturschutzsicht bewertet wird und wie Anwohner unter Lärm und Verkehrsaufkommen leiden, soll eine kleine Serie in den nächsten Wochen beleuchten.

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