Natur und Freizeit:Der Ansturm nach der Ruhe

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Zwar konnten sich während des Lockdowns Insekten, Vögel und Wildtiere zeitweise mehr Lebensraum erobern. Doch nun verspüren viele Menschen einen Nachholbedarf an Ausflügen, der der Natur erst recht zu schaffen macht.

Von Susanne Hauck, Bad Tölz-Wolfratshausen

Drei Monate Corona. Im Garten kreucht und fleucht, summt und brummt es. Die Luft ist klar. Scheue Rehe wagen sich aus dem Tief der Wälder, seltene Vögel werden gesichtet, Füchse spazieren am Ufer vom Gardasee. Manche meinen sogar, nach einer längeren Autofahrt wieder mehr Insekten auf der Windschutzscheibe zu zählen. Hat der Corona-Lockdown am Ende das Bienensterben verhindert, erholt sich die Natur wegen der wochenlangen Ausgangsbeschränkungen, den verödeten Autobahnen, der stillgelegten Industrieanlagen, des wie leer gefegten Himmels?

Friedl Krönauer aus Schlehdorf winkt ab. "So schnell geht das nicht", sagt der Kreisvorsitzende des Bund Naturschutz (BN). "Vielleicht gibt es eine kurze Erholung, aber ich befürchte, dass das kein langfristiger Effekt sein wird." Ganz von der Hand weisen will er die Observationen jedoch nicht. Auch er hat vermehrt Rehe beobachtet, die tagsüber anstatt in der Dämmerung aus ihrem Revier kamen, Weißstörche, die am Feld nach Nahrung pickten und Wildtiere, die sich so dicht an die Straße vorwagten, dass Krönauer sich wünscht: "Hoffentlich stellen die ihr Verhalten wieder um, jetzt, wo der Verkehr wieder mehr geworden ist." Er zieht für die Zeit des Lockdowns folgendes Fazit: "Die Tiere haben sich ihren Raum zurückerobert."

Es gab aber auch beunruhigende Meldungen. Aus Österreich hat Krönauer von zunehmender Wilderei aus der Zeit der strengen Sperrmaßnahmen erfahren. Weil Wilddiebe wegen ausbleibender Touristen in den Wäldern ihre Ruhe hatten, konnten sie ungestört ihrem unerlaubten Treiben nachgehen. Hierzulande sei es zum Glück nicht zu solchen Vorfällen gekommen. An einen Rückgang des Insektensterbens wegen Corona glaubt der Naturschützer nicht. "Vielleicht schauen die Leute genauer hin", ist seine Vermutung zu den vermeintlich mehr gewordenen schwarzen Punkten auf den Windschutzscheiben. Abgesehen davon, dass der größte Einflussfaktor die Landwirtschaft sei, die sich nicht geändert habe, würde es mehr helfen, die Blühwiesen länger stehen zu lassen.

"Der Wiedehopf, der Wiedehopf, der bringt der Braut den Blumentopf" - nur noch aus dem altbekannten Volkslied "Die Vogelhochzeit" kennen die meisten den auffälligen orange-schwarzen Vogel mit der markanten Federhaube. Als kleine Sensation galt deshalb, dass der vom Aussterben bedrohte Wiedehopf plötzlich wieder in Bayern auftauchte. Der extrem scheue Vogel wurde laut Landesbund für Vogelschutz (LBV) mehrfach gesichtet. Auch für den Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen hat Kreis-Geschäftsstellenleiterin Sabine Tappertzhofen eine Handvoll Meldungen erhalten. So sei der Wiedehopf etwa auf einem Feld bei Gelting gesichtet worden und auf dem Gelände des Golfclubs Isarwinkel bei Bad Tölz. Sei es, dass draußen weniger los ist oder die Menschen mehr Muße zum Schauen haben - "man sieht ihn jetzt halt mehr", meint die Fachfrau über den seltenen Vogel, der auf dem Durchzug in den Norden sei. Wie Krönauer hält es auch die Vogelkundlerin für ausgeschlossen, dass sich wegen Corona positive Effekte auf die Artenvielfalt feststellen lassen. "Das kann man nicht seriös auf die einzelne Heuschrecke im Feld herunterbrechen, wenn oben am Himmel weniger Flugzeuge unterwegs sind."

Was wiegen schon zeitweise ausgestorbene Straßen gegen völlig überrannte Ausflugsgebiete. Denn gerade nach dem Lockdown verspürten viele einen gewissen Nachholbedarf an Ausflügen und Naherholung, die der Natur erst recht zu schaffen mache. Tappertzhofen hat in den vergangenen Wochen mit Sorge sensible Moorgebiete wie etwa das Spatenbräufilz bei Bad Tölz im Auge behalten. Trotz vermehrten Zulaufs hätten sich die Besucher "aber alle an die Wege gehalten". Einen Massenandrang wie nie hat Friedl Krönauer am Kochelsee festgestellt. "So etwas wie am Pfingstmontag habe ich noch nie erlebt", stellt er kopfschüttelnd fest. Gerade die Mountainbiker hätten seit Corona unheimlich zugenommen, immer mehr würden dank der Motorkraft der E-Bikes auch Gefilde erklimmen, die ihnen aufgrund der körperlichen Leistungsfähigkeit eigentlich verwehrt blieben.

Das große Problem: Weil inzwischen auch den Wanderern und Radlern an den Top-Ausflugszielen wie etwa Jochberg, Herzogstand oder Rabenkopf zu viel los sei, wichen diese auf menschenleere Naturgebiete aus und störten die Tiere dort. "Das Netz ist voll von Geheimtipps und Touren, wo man unter sich sein kann", berichtet Krönauer. Selbst weitgehend unbekannte Jägersteige, wo früher vielleicht einmal am Tag jemand vorbei gekommen sei, würden mittlerweile extrem intensiv von Erholungssuchenden genutzt. Wenn sich die Bergwacht wundere, wie die Leute hierher kämen, bekäme sie meist die Antwort, das sei im Netz gestanden. So werde aber das Wild immer mehr aus seinem natürlichen Terrain vertrieben und müsse sich andere Rückzugsräume suchen.

Als Naturfreund ist Krönauer in einem Dilemma. Für das Klima sei es wahrscheinlich besser, "wenn 5000 Münchner am Wochenende an den Walchensee fahren anstatt mit dem Flieger nach Barcelona". Aber: "Natur und Tierwelt werden bei uns immer mehr in die Zange genommen." Die Ausflügler per se verteufeln, das will Krönauer nicht. Er wünscht sich aber mehr Gespür und Rücksichtnahme anstatt des rücksichtslosen "Sich-Austobens" in der Natur, wie es manche Mitmenschen als Verhalten an den Tag legten.

© SZ vom 12.06.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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